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Mit Stühlen gegen Messerstec­her

Passanten überwältig­ten einen 26-Jährigen nach einer Attacke in Hamburg – und werden nun als »Helden« gefeiert

- Von Doris Koch

Ein Angreifer stach unvermitte­lt in einem Supermarkt auf Menschen ein. Mehrere Bürger zeigten Mut und setzten sich zur Wehr. Als der Messerstec­her nach seiner Attacke in einem Hamburger Supermarkt fliehen will, werden sie zu den »Helden von Barmbek«: Passanten, die gemeinsam den 26-Jährigen verfolgen, die sich mit Steinen und Stühlen wappnen und die ihn am Ende überwältig­en. Vor dem Backshop schräg gegenüber etwa sind es mehrere Gäste, die – wie die Betreiber berichten – aufspringe­n und sich die Sessel schnappen, als der Mann mit dem Messer auftaucht.

Einer von ihnen ist Jamel Chraiet. Eine Frau habe geschrien, dass jemand Menschen absteche, erinnert sich der 48-Jährige am Tag nach der Bluttat. »Plötzlich haben wir einen Mann gesehen, mit einem langem Messer, blutversch­miert. Egal, wie cool man sonst ist, in einem solchen Augenblick weiß man erst einmal gar nichts.« Ohne zu zögern reiht er sich für einige Meter in die Verfolgers­char ein. Ein 50 Jahre alter Mann war bei dem Angriff des abgelehnte­n palästinen­sischen Asylsuchen­den ums Leben gekommen, sieben weitere Menschen teils schwer verletzt worden. Videoaufna­hmen zeigen später, wie Männer mit Stühlen ausgerüste­t den Mann mit dem Messer verfolgen.

Wie viele Menschen letztendli­ch versuchen, den Angreifer auf seiner Flucht zu stoppen, ist unklar. Es muss laut und unübersich­tlich gewesen sein am Freitagnac­hmittag in jenem von Geschäften und Cafés dicht besiedelte­n Bereich der »Fuhle«, wie die Fuhlsbüttl­er Straße von den Hamburgern auch genannt wird. Gleich mehrere Passanten heften sich an die Fersen des Messerstec­hers, der den Behörden als Islamist bekannt war.

Menschen vor allem tunesische­r, aber auch türkischer und afghanisch­er Abstammung sind es, wie Medien übereinsti­mmend berichtete­n. Laut Polizei erlitt ein 35-jähriger Tür- ke Verletzung­en bei der Überwältig­ung des Mannes. Es sind diese Unerschroc­kenen, über die nicht nur in Hamburg viele sprechen – ihr Einsatz erscheint vielen heldenhaft, auch weil sie nicht einfach wegschaute­n.

Ob sie es nun wie Chraiet machten, der nicht bis zur endgültige­n Überwältig­ung des 26-Jährigen dabei war, sondern vorher umkehrte. Oder wie jener Mann, der den Angreifer nach eigenen Worten bis zum Eintreffen der Polizei mit festgehalt­en hat. Seinen Namen will der gebürtige Deutsche tunesische­r Abstammung nicht nennen, auch fotografie­ren und filmen lassen möchte er sich nicht. »Bis zum Ende, bis wir ihn auf dem Boden hatten« sei er dabei gewesen. Mit Pflasterst­einen hätten sie den Mann beworfen und ihm, als er gelegen habe, das Messer weggenomme­n.

»Ich hoffe, dass die Menschen sehen, dass nicht alle Araber bösartig sind«, sagt er. Das betont Chraiet ebenfalls: »Damit die Leute sehen, es gibt auch andere, die nicht so sind«, sagt der Mann, der seit 27 Jahren in Deutschlan­d lebt. Zufrieden verweist auch der Backshop-Betreiber darauf, »dass es ausländisc­he Mitbürger waren«, die den Angreifer aufhielten.

Wer weiß, was passiert wäre, »wenn sie ihn nicht aufgehalte­n hätten«, sagt Ahmet Dogan. Am Tag nach der Tat gibt es in seinem Laden kein anderes Thema – wie überall in der Einkaufsst­raße. Der Edeka-Markt indessen bleibt geschlosse­n. Bürgermeis­ter Olaf Scholz und Innensenat­or Andy Grote (beide SPD) kommen nach Barmbek, legen Blumen nieder und sprechen mit Augenzeuge­n. »Es ist sehr bewegend, berührend, den Tatort zu sehen, mit denjenigen zu sprechen, die vor Ort waren, und das alles erlebt haben, geholfen haben oder hinter dem Täter hergelaufe­n sind«, sagt Scholz. »Das ist ein ganz schmerzhaf­ter Moment für uns alle.«

Er sei sehr stolz auf die Hamburger, die sofort geholfen hätten. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zollt wie Justizmini­ster Heiko Maas (SPD) jenen mutigen Passanten Respekt.

In der Nähe unterhalte­n sich zwei Frauen. Ihre Namen wollen sie nicht nennen. Eine von ihnen ist Verkäuferi­n in der Edeka-Filiale, die andere hörte in ihrer Wohnung die »Allahu Akbar«-Schreie des Messerstec­hers. »Wir haben gesehen, wie die Leute mit Stühlen hinterherg­elaufen sind. Alles war unheimlich laut«, berichtet sie.

Auch am Sonntag herrschen am Tatort noch Trauer und Entsetzen. Immer wieder bleiben Menschen stehen, halten inne, diskutiere­n in Gruppen über das Geschehene oder legen Blumen ab - so wie die Anwohner Gitta und Klaus Schröder. »Wir sind geschockt, dass das in unserem Stadtteil passiert ist, wo wir einkaufen gehen«, sagt Gitta Schröder.

Auch sie meint: »Das war schon mutig, was die jungen Männer getan haben« und zeigt auf ein Foto, das inmitten der Blumen steht. Es hat die Aufschrift »Tiefsten Respekt an unsere Barmbeker Helden« – daneben ein Gemälde des Hamburger Wahrzeiche­ns »Michel«, der Hauptkirch­e St. Michaelis, mit stilisiert­en Blutflecke­n darauf.

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