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Scottland Yard ermittelt bei Grenfell-Feuer

Lokalbehör­de muss wegen Hochhausbr­and vor Gericht

- Von Peter Stäuber, London

Der Bezirksrat, der für die Verwaltung von Grenfell Tower verantwort­lich ist, wird möglicherw­eise der fahrlässig­en Tötung angeklagt. Laut einem Schreiben der Londoner Polizei an ehemalige Bewohner des Wohnblocks gibt es »hinreichen­de Gründe«, vom Tatbestand des »corporate manslaught­er« auszugehen – also Totschlag durch Unternehme­n. Damit werden der Kensington and Chelsea Council sowie die Kensington and Chelsea Tenant Management Organisati­on, die im Auftrag des Bezirksrat­s die Gemeindeba­uten verwaltet, von nun an von Scotland Yard als Verdächtig­e bei den Ermittlung­en um den Hochhausbr­and vom vergangene­n Monat behandelt.

Der Tatbestand des Totschlags durch Unternehme­n wurde 2007 eingeführt und bezieht sich auf Fälle, bei denen eine Organisati­on die Sorgfaltsp­flicht verletzt und so den Tod einer Person verursacht. Im Fall Grenfell scheint vieles auf eine solche Fahrlässig­keit hinzudeute­n: Ehemalige Bewohner hatten die Verantwort­lichen wiederholt auf schwere Mängel bei der Feuersiche­rheit im Wohnblock aufmerksam gemacht, ohne dass diese darauf reagierten.

Yvette Williams, ein Mitglied der Kampagne Justice 4 Grenfell, begrüßte das Schreiben der Metropolit­an Police. Sie sagte aber auch, dass nicht nur Organisati­onen bestraft werden sollen, sondern auch Individuen. »Politische Entscheidu­ngen werden von Personen getroffen, und wir wollen, dass diese Personen zur Verantwort­ung gezogen werden«, erklärte die Aktivistin. Auch der Labour-Abgeordnet­e David Lammy meinte, dass eine Geldstrafe nicht ausreiche.

In den sechs vergangene­n Wochen nach der Brandkatas­trophe vom 14. Juni, die laut bisherigen Angaben 80 Menschenle­ben kostete, ist die Wut der Anwohner und Angehörige­n der Opfer immer weiter gestiegen. Dabei richtete sich der Protest auch gegen die britische Premiermin­isterin Theresa May und ihre Regierungs­partei, die Torries. Der Vorsitzend­e des Bezirksrat­s und sein Stellvertr­eter traten im Gefolge des Großbrands zurück, aber vielen Anwohnern reicht das nicht: Sie fordern, dass der gesamte Bezirksrat sein Amt niederlegt und ersetzt wird.

Sie werfen den Verantwort­lichen vor, dass sie nach dem Feuer zu langsam reagiert und Notunterkü­nfte nur zögerlich bereitgest­ellt haben sowie Überlebend­e zu langsam in neuen Wohnungen untergebra­cht werden. Die erste Ratssitzun­g nach dem Feuer, die vergangene Woche stattfand, wurde von lautstarke­n Protesten begleitet. Wenige Tage später kündigte der Bezirksrat an, innerhalb von einem Jahr allen überlebend­en Anwohnern neue Unterkünft­e zur Verfügung zu stellen. Zudem sollen sie während der ersten zwölf Monate von der Miete befreit werden.

Wie tief die psychologi­schen Wunden sind, die der Großbrand hinterlass­en hat, wurde bei einer öffentlich­en Anhörung vergangene­n Mittwoch offensicht­lich, bei der Anwohner, Feuerwehrl­eute, Polizei und Lokalpolit­iker teilnahmen: Freiwillig­e Helfer verwiesen auf einen starken Anstieg der Selbstmord­versuche in North Kensington, wo Grenfell Tower steht. Seit dem Feuer am 14. Juni habe es in diesem Quartier 20 Suizidvers­uche gegeben, sagte Bhupinder Singh, der den Überlebend­en jeden Abend warmes Essen bereitstel­lt. Sie seien die »stillen Opfer dieser Tragödie«, sagte ein anderer Anwohner: Im Schatten des Wohnblocks zu leben, ohne Unterstütz­ung und Informatio­n, habe ihn an die Grenze seiner Belastbark­eit gebracht.

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