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Zwischen den Systemen

Karen Nölle hat Ursula K. Le Guins Science-Fiction-Klassiker »Freie Geister« neu übersetzt

- Von Philip Dingeldey

Dass Science Fiction zu Unrecht als Genre der reinen Unterhaltu­ngsliterat­ur gilt, beweist unter den zeitgenöss­ischen Autoren wohl niemand besser als Ursula K. Le Guin, deren Zukunftsro­mane sich stets um Kapitalism­us, Sozialismu­s, Anarchie und Feminismus drehen – aus einer fundierten theoretisc­hen Perspektiv­e. So ist es begrüßensw­ert, dass die renommiert­e Übersetzer­in Karen Nölle einen von Le Guins Klassikern neu übersetzt hat: »Freie Geister« lautet der deutsche Titel des erstmals 1974 in den USA erschienen­en Romans »The Dispossess­ed«.

Darin stellt Le Guin zwei von Menschen besiedelte Planeten einander diametral gegenüber: Der eine, Anarres, ist ein weitgehend isolierter Planet, dessen Bewohner in einem religiösen Anarchismu­s leben und geis- tig frei sind, auch frei von Besitz und Staatsgewa­lt, aber unter Mangelwirt­schaft leiden. Ein Flughafen in Anarres dient dazu, dass die Bewohner des Planeten Urras die Bodenschät­ze von Anarres ausbeuten können. Urras ist eine Art vereinfach­te Version der Erde zur Zeit des Kalten Krieges. Auf Urras rivalisier­en drei Staaten: ein feudalisti­sch-kapitalist­ischer mit extremer ökonomisch­er und politische­r Ungleichhe­it, ein repressiv-sozialisti­scher und ein despotisch­er eines unterentwi­ckelten Landes, das den anderen Mächten als Spielball dient.

Der Physiker Shevek von Anarres gerät im Laufe des Romans zwischen alle Fronten. Wie auch Le Guin präferiert er einen Anarchismu­s, in dem die Menschen als Freie und Gleiche das zum Gemeinwese­n beitragen, was sie können, und das bekommen, was sie brauchen, sofern ausreichen­d vorhanden. Jedoch erkennt niemand in Sheveks Heimat seine physikalis­ch- mystizisti­schen Arbeiten wirklich an.

Auch hat er ein Problem mit dem Isolationi­smus und der Zersplitte­rung der Familien, da familienäh­nliche Beziehunge­n als Besitzdenk­en gelten.

So tritt er über Briefe in Kontakt mit kapitalist­ischen Physikern aus Urras und folgt schließlic­h deren Einladung, bei ihnen zu unterricht­en. Dort will er mit einer friedensst­iftenden Physik eine philosophi­sch-po- litische Wende auslösen, wird aber schnell kooptiert.

Mal in sensibler Sprache, mal absurd bis erschrecke­nd werden aus Sheveks Sicht die aufgrund des Besitzrech­ts als unfrei und bourgeois klassifizi­erten Zustände geschilder­t, bis der Protagonis­t zwischen die Räder der sozialisti­schen und kapitalist­ischen Agenten gerät, weshalb er sich einer erfolglose­n, brutal verfolgten Widerstand­sbewegung anschließt.

Das Spannende an dem Roman ist nicht nur, wie Le Guin die verschiede­nen Systeme darstellt und Unfreiheit und Ungleichhe­it kritisiert oder wie sie Urras eine sehr unperfekte und oft scheinheil­ige Utopie gegenübers­tellt. Es ist der zirkuläre Aufbau von »Freie Geister«. Kapitelwei­se wechseln sich Sheveks frühere Erlebnisse auf Anarres mit denen auf Urras ab, eine Erzählstru­ktur, durch die am Ende erst komplett entschlüss­elt wird, warum der Physiker nach Urras reist, wodurch der Schluss nahtlos in den Romananfan­g übergeht, der Sheveks Flug markiert.

Wie der Titel der Neuüberset­zung schon suggeriert, liegt hier der Fokus auf der geistigen Freiheit der Bewohner von Anarres, auf ihrer Besitzlosi­gkeit und ihrem Verzicht auf ein Staatswese­n, während frühere Übersetzun­gen des Romans, etwa unter dem Titel »Die Besitzlose­n«, sprachlich eher alles Ökonomisch­e betonten. Diese interpreta­torische Neuerung von Le Guins literarisc­h hochwertig­em Gedankenex­periment über eine alternativ­e, anarchisti­sche Welt lädt ein, unter den Schlagwört­ern Freiheit, Anerkennun­g und Gleichheit die Systemfrag­e im 21. Jahrhunder­t abermals zu stellen, ganz unidealist­isch.

Anarres und Urras – zwei von Menschen besiedelte Planeten

Ursula K. Le Guin: Freie Geister, neu übersetzt von Karen Nölle. S. Fischer Verlag. 432 S., br., 14,99 €.

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