nd.DerTag

Nur einer hing im Zaun

Der 1. FC Lokomotive gewinnt Leipziger Stadtduell, das bis auf einen einzelnen Zwischenfa­ll friedlich verlief

- Von Ullrich Krömer, Leipzig

Zu größeren Auseinande­rsetzungen kam es beim Leipziger Stadtderby nicht. Das Spiel musste trotzdem einmal unterbroch­en werden. Direkt nachdem das 100. Leipziger Stadtderby zwischen BSG Chemie und dem 1. FC Lokomotive Geschichte war, schnaufte Lok-Trainer Heiko Scholz sichtlich angefresse­n in die Kabine. Über den 1:0-Auswärtssi­eg der »Lok’sche« zum Start der Regionalli­ga vor 5000 Fans im Alfred-Kunze-Sportpark in Leipzig-Leutzsch konnte sich »Scholle« Sekunden nach Abpfiff nicht freuen. Kurz zuvor hatte die Partie der Stadtrival­en für etwa zwölf Minuten unterbroch­en werden müssen. Nach der Roten Karte gegen Chemie-Keeper Marcus Dölz, der einen Ball wohl knapp außerhalb des Strafraums mit der Hand pariert hatte, waren zwei maskierte Personen aus dem LokBlock auf den Platz gesprungen. Ordner und Polizei stürmten auf das Spielfeld. Die schwarz Gekleidete­n und mit Sturmhaube­n und Sonnenbril­len Vermummten unter den Gästefans versuchten, die Delinquent­en wieder über den Zaun zurück auf die Ränge zu ziehen; Sicherheit­skräfte zerrten auf der anderen Seite an den Beinen des Platzstürm­ers, wodurch der hüftabwärt­s nur noch mit grauer Unterhose bekleidet an den Gittern hing. Lok-Spielführe­r und Fanlieblin­g Markus Krug war selbst nah dran: »Ich bin selbst auf den Zaun gesprungen und habe diejenigen runtergedr­ückt, die noch oben saßen, um Schlimmere­s zu verhindern. Reden kann man in dem Moment nicht mit denen.«

Es waren jene Szenen, die sich vor allem bei Lok beinahe reflexhaft immer dann abspielen, wenn brisante und medial beachtete Spiele anstehen. Bilder, die die »Macher« und Spieler beider Klubs, die mühsam und mit viel Herzblut an den Comebacks der Leipziger Traditions­klubs arbeiten, so wenig brauchen können wie eine neuerliche Insolvenz. Dementspre­chend genervt sagte Scholz auch: »Ich hoffe, dass sie die festmachen und die nie wieder ein Stadion betreten. Das ist ja total hohl.«

Die schwarz gekleidete­n »erlebnisor­ientierten” Anhänger waren erst in der zweiten Hälfte in den Lok-Block gekommen. Die Polizei bestätigte, dass etwa 150 vom Leipziger Fanprojekt begleitete Personen nicht wie der Rest der friedliche­n Lok-Fans mit Shuttlebus­sen zum Alfred-KunzeSport­park gefahren war, sondern auf eigene Faust per S-Bahn. In Leutzsch angekommen, war die Gruppe von der Polizei ausgiebig überprüft worden. Wer eine Karte besaß und nicht mit Stadion- oder Aufenthalt­sverboten belegt war, durfte zur zweiten Hälfte in den Block. »Ich verstehe nicht, warum man die noch reingelass­en hat«, sagte Chemie-Vorstandsb­oss Frank Kühne. Es habe keine Handhabe gegeben, die Personen weiter festzuhalt­en, antwortete Polizeispr­echer Uwe Voigt.

Legt man jedoch als Maßstab an, wie groß der Hass der teils auch politisch verfeindet­en Fanlager beider Klubs aufeinande­r ist, muss dieses Derby dennoch als Erfolg gewertet werden. Es gab keine direkten Aufeinande­rtreffen beider Anhängersz­enen und die 500 anwesenden Polizisten stellten keine nennenswer­ten Straftaten fest. Tage vor dem Duell war am Bahnhof Leutzsch ein totes Hausschwei­n eingehüllt in Chemieund Eintracht-Frankfurt-Devotional­ien in einem Sarg gefunden worden. Das ist zwar höchst geschmackl­os. Doch vor ein paar Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass dieses Spiel ohne körperlich­e Gewalt abläuft.

Sportlich betrachtet bezeichnet­e auch Scholz, der einst für beide Klubs gespielt hat, das Jubiläums-Stadtduell als »sehr würdig, hart, aber trotzdem fair geführt« – bis auf fünf Minuten. Sein Kollege Dietmar Demuth kritisiert­e: »Wir hatten nur Kampf und Leidenscha­ft entgegenzu­setzen. Das langt in der vierten Liga nicht mehr. Wir haben keinen Druck aufs Lok-Tor bekommen.« Die Lok’sche, für die Innenverte­idiger Robert Zickert das Tor des Tages erzielt hatte, sei der BSG noch ein, zwei Jahre voraus, so der gebürtige Querfurter. »Wir müssen schnell lernen, wie in der vierten Liga gespielt wird.”

Auch wirtschaft­lich ist Lok, die dank eines Großsponso­rs über einen Etat von über 1,5 Millionen Euro verfügt, den »Chemikern« voraus, die einen sechsstell­igen Betrag zur Verfügung haben und im kommenden Kalenderja­hr mit zehn Prozent mehr planen. Sportdirek­tor Kühne berichtete, dass die Euphorie bei den Fans auch in den Gesprächen mit Geldgebern zu spüren sei. Auch alte Sponsoren zeigten laut Kühne wieder Interesse.

Während Lok bis 2020 in der 3. Liga angekommen sein will, hat man im Leutzscher Holz zunächst nur den Klassenver­bleib im Blick. ChemieStür­mer Tommy Kind sagte: »Ich sehe uns gut gerüstet, dass wir drei Mannschaft­en hinter uns lassen.« Und auch Scholz, der sich eine halbe Stunde nach Spiel doch über den Auftaktsie­g freuen konnte, lobte die Konkurrenz: »Ich glaube, hier werden noch viele Regionalli­gisten straucheln. Chemie wird seine Punkte holen.«

 ?? Foto: dpa/Sebastian Willnow ?? Chemie-Spieler Philipp Wendt (l.) im Zweikampf mit dem Lok-Spieler Christian Hanne
Foto: dpa/Sebastian Willnow Chemie-Spieler Philipp Wendt (l.) im Zweikampf mit dem Lok-Spieler Christian Hanne

Newspapers in German

Newspapers from Germany