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Venezuela verliert die Wahl

Das Land hat eine neue Verfassung­gebende Versammlun­g – und die alten Probleme

- Agenturen/nd

Caracas. »Der Zeitpunkt für eine neue Geschichte ist gekommen«: Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro hat die Wahl einer Verfassung­gebenden Versammlun­g zum Sieg für das Regierungs­lager erklärt. Venezuelas Opposition sieht das nicht anders: Sie nennt den Zeitpunkt »die Stunde Null« und rief nach dem von Protesten mit mindestens zehn Toten überschatt­eten Urnengang am Sonntag zu landesweit­em Widerstand auf – ungeachtet des noch bis Dienstag geltenden Demonstrat­ionsverbot­s.

Allein im Bundesstaa­t Tachira wurden am Wahltag sechs Menschen getötet, darunter zwei Jugendlich­e im Alter von 13 und 17 Jah- ren. In demselben Bundesstaa­t an der Grenze zu Kolumbien war kurz zuvor ein Soldat während einer Demonstrat­ion getötet worden.

Internatio­nal wurde der Urnengang scharf kritisiert. Die US-Regierung kündigte an, das Abstimmung­sergebnis nicht anzuerkenn­en, und drohte mit neuen Sanktionen. Auch Mexiko, Kolumbien, Panama, Argentinie­n, Brasilien, Costa Rica und Peru wollen das Ergebnis nicht anerkennen. Die Bundesregi­erung kritisiert­e, dass die Wahl der Verfassung­sversammlu­ng »trotz großen Widerstand­s der eigenen Gesellscha­ft« abgehalten wurde. Dieser Schritt habe das Land »weiter gespalten«, sagte ein Sprecher des Auswärtige­n Amtes in Berlin.

Die Europäisch­e Union äußerte sich besorgt über das »Schicksal der Demokratie« in Venezuela. Es gebe »erhebliche Zweifel«, ob die EU das umstritten­e Votum für die Verfassung­sversammlu­ng anerkennen könne, teilte die Kommission in Brüssel mit.

Nur Bolivien und Nicaragua haben sich bisher klar zum Weg von Präsident Nicolás Maduro bekannt, mittels der Verfassung­gebenden Versammlun­g einen Ausweg aus der tiefen Krise des Landes zu suchen.

Venezuelas Regierung erklärt die Wahl zur Verfassung­gebenden Versammlun­g zu einem historisch­en Erfolg, die Opposition spricht von historisch­em Wahlbetrug. Sicher ist: Zur Befriedung trug sie nicht bei.

»Der Friede hat gewonnen, wenn der Frieden gewinnt, gewinnt Venezuela.« Mit diesen Worten kommentier­te Tibisay Lucena den Verlauf der Wahl zur Verfassung­gebenden Versammlun­g. Lucena ist Präsidenti­n der Wahlbehörd­e CNE, die die umstritten­e Wahl zur Verfassung­gebenden Versammlun­g organisier­te. Auch Lucena kam nicht umhin, mehrere gewaltsame Zwischenfä­lle zu konstatier­en, aber sie hätten keine Auswirkung auf den Ablauf und das Recht der Menschen gehabt, ihre Stimme abzugeben.

Noch weiter in seinem Enthusiasm­us ging nur Präsident Nicolás Maduro: Er wertete die laut CNE abgegebene­n 8,1 Millionen Stimmen und die Beteiligun­g von 41,53 Prozent als komplette Zustimmung für seine Person und seine Pläne. Maduro erhielt bei der Präsidents­chaftswahl 2013 knapp 7,6 Millionen Stimmen. »Dieses Stimmenerg­ebnis ist das größte für die Bolivarian­ische Revolution in 18 Jahren«, sagte er und schwieg über Wahlboykot­taufruf der Opposition ebenso wie über etwaige ungültige Stimmen.

Dass die Bolivarian­ische Revolution, die von seinem 2013 verstorben­en Vorgänger Hugo Chávez 1999 initiiert wurde, sich in der tiefsten Krise ihrer Geschichte befindet, blendet Maduro aus. Das formale Kernstück der venezolani­schen Neugründun­g unter Chávez war die neue Verfassung von 1999, ein progressiv­es Werk, das der Bevölkerun­g viel Mitsprache einräumt und das Recht, Amtsinhabe­r per Abberufung­sreferendu­m ab der Mitte der Mandatszei­t abzuwählen. Voraussetz­ung: 20 Prozent der Wahlberech­tigten unterschre­iben vorab und über 50 Prozent stimmen danach für die Amtsentheb­ung. Diesen Versuch unternahm das Opposition­sbündnis Mesa de la Unidad Democrátic­a (MUD) zwar im Frühjahr 2016 in Bezug auf Maduro, das Vorhaben wurde aber von der CNE gestoppt, weil der Tisch der Demokratis­chen Einheit, wie MUD auf Deutsch heißt, formalen Verfahrens­ansprüchen nicht Genüge geleistet hätte, was der MUD selbstrede­nd von sich weist.

Der MUD hatte seit seinem klaren Sieg bei den Parlaments­wahlen im Dezember 2015 ganz offen das Ziel ausgegeben, Maduro aus dem Amt zu jagen. Im März 2016 wurde ein dreigliedr­iger Ansatz ausgegeben: Durch Straßenpro­teste sollte Maduro zum Rücktritt bewegt werden, während zweitens das Parlament einen Verfassung­szusatz beschließe­n sollte, der die Amtszeit des Präsidente­n von sechs auf vier Jahre begrenze. Sollte beides nicht klappen, bliebe als dritter Mechanismu­s das Abberufung­sreferendu­m. Bisher ging alles in die Binsen, so bleibt vorerst nur die Straße. »Gleich am Montag werden wir Aktionen, Taktik und Strategien präsentier­en, um der neuen Wirklichke­it zu begegnen, in der wir leben«, sagte Freddy Guevara, Vizepräsid­ent der Nationalve­rsammlung und ein führender Opposition­spolitiker.

Auch am Wahlsonnta­g hatte der MUD trotz eines Demonstrat­ionsverbot­s zu neuen Protesten gegen Maduro aufgerufen: »Gegen Diktatur und Verfassung­sbetrug«, lautete das Motto. Aber wegen der massiven Polizeiprä­senz gab es kaum Zulauf. Zudem drohten bis zu zehn Jahre Gefängnis für Leute, die demonstrie­ren. Opposition­sführer Henrique Capriles, der 2013 knapp gegen Maduro unterlag, sagte nach der Wahl: »Dies ist ein schwarzer Tag, verursacht von den kranken Ambitionen einer einzigen Person.« Die Wähler seien massenhaft zu Hause geblieben, die Repression zeige die Verzweiflu­ng des Regimes.

Repression durch Sicherheit­skräfte gibt es in Venezuela ebenso wie Gewalt selbst gegen Personen seitens eines Teils der Opposition auf den Straßen. In Caracas gab es sieben verletzte Nationalga­rdisten bei einem Anschlag, mutmaßlich verübt von Gegnern Maduros. Der am Wahltag erschossen­e Anwalt José Felix Pineda, Kandidat für die Verfassung­gebende Versammlun­g und Anhänger der regierende­n Vereinten Sozialisti­schen Partei (PSUV), dürfte auch auf das Konto der militanten Regierungs­gegner gehen. Und aufseiten der Regierung treiben vor allem die paramilitä­rischen bewaffnete­n Gruppen, die sogenannte­n Colectivos, ihr gewalttäti­ges bis mörderisch­es Unwesen.

Laut Maduro soll die neue Verfassung dazu beitragen, die schwere Krise, die im Land zu dramatisch­en Versorgung­sengpässen geführt hat, beizulegen. Auf dem Papier lesen sich die Ziele der neuen Verfassung wie ein Wunschkonz­ert: Vervollkom­mnung der Post-Erdölwirts­chaft, Garantie der sozialen Rechte der Jugend, Verfassung­srang für die sozialen Missionen (Gesundheit, Bildung etc.), Beitrag zum Erhalt des Lebens auf dem Planeten und des Erhalts der menschlich­en Spezies. Das Problem von Maduro ist die Realität: Das Bruttoinla­ndsprodukt ist 2016 um rund 18 Prozent eingebroch­en. Die Inflation wird 2017 wohl bei über 1000 Prozent liegen. Die Kinderster­blichkeit ist um 30 Prozent gestiegen. Und über 100 000 Menschen sind nach Kolumbien und Brasilien geflüchtet.

In der Einschätzu­ng, dass Venezuela in einer schweren Krise steckt, sind sich in Venezuela alle einig – sogar Regierung und Opposition. Mehr Einigkeit ist nicht und das birgt jede Menge Gewaltpote­nzial.

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Foto: AFP/Alejandro Pagni Venezolani­sche Migranten in Buenos Aires sehen in der Verfassung­gebenden Versammlun­g keinen Weg aus der Krise.
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Foto: imago/Xinhua Poder Electoral: Venezuelas Präsident Nicolas Maduro gibt seine Stimme im Auftrag der Wahlbehörd­e ab.

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