Jugend ohne Arbeit
In Italien findet eine ganze Generation keine gute Arbeit, viele sehen wenig Hoffnung für die Zukunft
In Italien sehen junge Menschen kaum eine Perspektive.
Unbezahlte Praktikumsplätze, Schwarzarbeit, Gelegenheitsjobs – wer in Italien heute jung ist, hat oft wenig Chancen auf eine feste und vernünftig bezahlte Anstellung. Das belastet eine ganze Generation. Francesca sitzt im kleinen Garten ihres Vaters in Palmarola, einem Vorort von Rom. Sie ist 22 Jahre alt, ich kenne sie, seit sie als kleines Mädchen in der Wohnung neben mir wohnte. Damals habe ich manchmal mit ihr Englisch gelernt, weil ihre Eltern mit dem Fach überfordert waren. Nach der Scheidung der Eltern habe ich das Mädchen aus den Augen verloren. Ihr Vater Roberto, ein Automechaniker, hat mir ab und zu von ihr erzählt – vor allem von seiner Sorge um ihre Zukunft. Francesca gehört zu den knapp 20 Prozent der Italiener, die weder eine Ausbildung machen noch Arbeit haben oder danach suchen – den sogenannten NEET (not in education, employment or training).
»Was soll ich sein?«, fragt sie lachend. »Willst du mir immer noch Englisch beibringen? Das hat ja nicht mal funktioniert, als ich auf der Grundschule war.« Francesca ist eine selbstbewusste junge Frau, die mir gern über ihr Leben als NEET Auskunft gibt: »Dass ich nicht arbeite, ist Quatsch«, sagt sie. »Ich arbeite, wenn ich Arbeit finde. Heute Nachmittag gehe ich zum Beispiel in einen kleinen Supermarkt hier um die Ecke. Da räume ich ab und zu mal das Lager ein. Immer dann, wenn sie mich rufen.« – »Bekommst du Geld dafür?«, frage ich. »Ja, fünf Euro pro Stunde, bar auf die Hand.« Das ist natürlich Schwarzarbeit, und die Hoffnung auf eine Festanstellung oder zumindest irgendeine Art von Arbeitsvertrag besteht auch nicht. »Warum sollten die mich denn auch einstellen?«, meint Francesca bitter. »Ich muss mich ja noch fast dafür bedanken, dass ich dort ein paar Euro verdienen darf. Viele meiner Freunde hier im Quartier beneiden mich sogar darum.«
Eine Ausbildung hat die junge Frau nicht absolviert. »Ich habe mit Ach und Krach die Schule beendet.« In Italien sind zehn Schuljahre Pflicht, oder man kann abgehen, wenn man 15 Jahre alt ist. Bis zur 8. Klasse besuchen alle die gleiche Schule, danach reicht die Bandbreite vom Gymnasium bis zu Technischen oder Berufsschulen. Wer hier nur die vorgeschriebenen zwei Jahre absolviert, hat praktisch nichts in der Hand. Wer hingegen nach fünf Jahren abschließt, hat ein Diplom, das er je nach Schultyp mehr oder weniger gut auf dem Arbeitsmarkt einsetzen kann. Wer eine Technische Oberschule besucht hat, hat sicher mehr Chancen als diejenigen, die etwa auf die Hotelfach- oder Kinderbetreuungsbranche gesetzt haben. Nach 13 Schuljahren – egal welchen Typs – hat man auch ein Anrecht darauf, sich in der Universität einzuschreiben. Allerdings machen das immer weniger Italiener, auch weil ein Hochschulabschluss, egal in welchem Fach, längst keine Garantie mehr für einen Job ist. In den vergangenen zehn Jahren haben sich 20 Prozent weniger Abiturienten als zuvor für die Uni entschieden.
Francesca ist mit 16 abgegangen. Sie wollte selbstständig sein und ihr eigenes Geld verdienen. Dann lernte sie einen Jungen kennen, dessen Eltern eine Putzfirma betreiben. Sie zog zu ihm, arbeitete ein paar Jahre im Familienbetrieb. Auch hier hat sie nie einen Arbeitsvertrag oder eine regelmäßige Bezahlung gesehen. Die Beziehung ging in die Brüche, und Francesca zog bei ihrem Vater ein. »Er hat sich immer prima um mich gekümmert«, sagt sie. Und er hat versucht, eine Arbeit für sie zu finden.
»Ich habe all meine Kunden angesprochen«, sagt Roberto. »Aber mehr als ein paar Putzjobs waren nicht drin. Dann habe ich die Verwandten abgeklappert, aber auch da gab es nichts.« Schließlich überredete er Francesca dazu, eine Ausbildung zu machen oder zumindest einen berufsorientierten Kurs zu besuchen, wie ihn in Italien die Regionen anbieten. Meistens dauern sie sechs Monate und kosten wenig – das ist wichtig, wenn man mit einem kleinen Gehalt in Rom eine Familie ernähren muss.
Da Francesca schon immer gut zeichnen konnte, schreibt sie sich bei einem Tattoo-Kurs ein. »Plötzlich hat es mir großen Spaß gemacht, die Schulbank zu drücken«, lacht sie. »Ich habe Hygiene und Farbenleere gepaukt und sogar einige Grundlagen von Chemie.« Sie macht ihren Abschluss mit einer guten Note, und plötzlich scheint ihr Traum von einem Arbeitsvertrag in Erfüllung zu gehen. »Mich hat ein großes Tattoo-Studio kontaktiert und gefragt, ob ich bei ihnen ein dreimonatiges Praktikum absolvieren wolle. Zehn Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche, und bezahlt haben sie mir nur das Abo für den Nahverkehr. Aber ich habe durchgehalten, und Papa hat mich gerne weiter finanziert, weil wir ja hofften, dass ich übernommen werden würde. Doch ein paar Tage bevor die drei Monate um waren, hat man mir gesagt, dass man mit meiner Arbeit zwar sehr zufrieden sei, aber leider keinen Bedarf an weiteren Mitarbeitern habe …« Man merkt, dass ihr die Abfuhr immer noch wehtut.
Roberto erzählt, wie Francesca in ein tiefes Loch fiel, wie sie wochenlang nicht mehr aus dem Haus ging und Essstörungen entwickelte. Doch dann habe sie die Kurve gekriegt, eine Diät gemacht und langsam ihren Lebensmut wiedergefunden, sagt er stolz.
Francesca will mir bei einem Espresso Freunde vorstellen, die sich in einer ähnlichen Lage wie sie befinden. Auf dem Weg erzählt sie mir, dass sie sich im letzten Jahr bei fast allen Tattoo-Studios in Rom beworben hat: »Wochenlang war ich in der Stadt unterwegs. Ein paar Mal hat man mir Probearbeiten angeboten, mal eine, mal zwei Wochen, mal mit und mal ohne Bezahlung. Und dann war immer Schluss.« Es ist ein bekanntes Phänomen, dass in Italien vor allem kleine und Handwerksbetriebe, egal welcher Branche, ihre Mitarbeiter auf diese Art zusammensuchen. Oder aber sie kassieren die Steuervergünstigungen, die es gibt, wenn man einen Schulabgänger einstellt, und entlassen ihn, wenn diese Vorteile wieder auslaufen.
In der Espresso-Bar werden wir von einem Jungen bedient, der höchstens 16 Jahre alt ist. »Das ist Pino«, flüstert Francesca. »Er arbeitet seit ein paar Wochen hier und bekommt, soviel ich weiß, elf Euro pro Tag. Alles schwarz natürlich. Aber seine Mutter ist froh, dass er überhaupt was nach Hause bringt.« Kurz darauf setzt sich ein junger Mann zu uns. »Das ist Daniele«, stellt meine Begleiterin ihn vor. »Er gehört auch zu deiner Kategorie mit dem schönen englischen Namen«, lacht sie und erklärt ihrem Bekannten, über was ich schreibe. »Gut, dann bin ich eben ein NEET«, sagt er. »Tatsächlich suche ich derzeit wirklich nicht nach Arbeit und mache auch keine Ausbildung.« Er ist 23 Jahre alt und hat zwei Jahre lang Betriebswirtschaftslehre studiert. »Dann habe ich abgebrochen. Das Studium kostet Geld, und auch wenn meine Mutter sich das vielleicht sogar leisten könnte, sehe ich nicht ein, warum sie die Euro aus dem Fenster schmeißen sollte. Ich kenne genug Leute, die das Studium abgeschlossen haben und trotzdem auf der Straße sitzen. Einige machen dann eine Fortbildung nach der anderen, hangeln sich von Stage zu Stage und hoffen darauf, dass sich die Wirtschaftslage bessert, wie uns die Regierung ja tagtäglich verspricht. Oder sie gehen irgendwann ins Ausland und suchen da irgendetwas.«
Daniele will aber nicht wegziehen. »Zum einen möchte ich meine Mutter nicht alleinlassen. Ihr geht es nicht besonders gut. Zum anderen weigere ich mich auch, weil es doch absurd wäre, wenn eine ganze Generation das Land verlassen würde. Was ist denn das für ein Land, das seine Kinder einfach wegschickt?« Auch Daniele macht Gelegenheitsarbeiten. »Ab und zu helfe ich meinem Onkel in seiner Bäckerei mit der Buchhaltung«, sagt er. »Er bezahlt mich dafür, aber mehr als 150 Euro im Monat kann er sich nicht leisten. Schwarz, natürlich.«
»Habt ihr euch denn arbeitslos gemeldet?«, frage ich Francesca und Daniele. Sie sehen sich an und lachen laut, so, als hätte ich einen guten Witz gemacht. »Du bist ja gut«, prustet der junge Mann. »Was soll das bringen? Nur Bürokratie und sonst gar nichts. Ich weiß, in anderen Ländern ist das anders, aber hier gibt es für Leute wie uns weder Arbeitslosengeld noch Sozialhilfe.« Ich stelle eine weitere Frage, obwohl ich ahne, dass sie eine weitere Lachsalve hervorrufen wird: »Und das Arbeitsamt?« – »Ja, ja, das Arbeitsamt«, meint Francesca. »Was soll ich da? Meinst du etwa, dass die eine Arbeit für uns finden würden?« – »Es gibt einfach keine Arbeit«, fügt Daniele bitter hinzu.
Wir verabschieden uns. Vor meinem Auto holt mich Roberto ein. »Hörst du dich bitte auch mal um?«, bittet er mich. »Vielleicht braucht ja jemand eine Putzfrau oder einen Babysitter. Ich kann keine Nacht mehr richtig schlafen, weil ich mir solche Sorgen um meine Tochter mache … Wie soll es denn werden, wenn ich mal nicht mehr da bin?«
»Ich arbeite, wenn ich Arbeit finde. Heute Nachmittag gehe ich zum Beispiel in einen kleinen Supermarkt hier um die Ecke. Da räume ich ab und zu mal das Lager ein.«