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Instrument­alisierung­sgefahr

Nach der Attacke in Barmbek streiten Politiker: hartes Durchgreif­en oder Besonnenhe­it

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Der tödliche Messerangr­iff von Hamburg schockiert über die Hansestadt hinaus. Im politische­n Berlin beginnt die Schuldzuwe­isung.

Hamburg. Nach der Messeratta­cke in einem Hamburger Supermarkt hat die betroffene Edeka-Filiale am Montagmorg­en erstmals wieder geöffnet. Vor dem Gebäude wurden Blumen und Kerzen abgelegt. Es seien Kollegen, die am Freitag im Supermarkt waren, wieder im Einsatz, sagte Unternehme­nssprecher Gernot Kasel. »Es ist für die Mitarbeite­r natürlich schwer, wieder an diesen Arbeitspla­tz zurückzuke­hren.«

In einem an der Eingangstü­r der Filiale im Stadtteil Barmbek angebracht­en Schreiben bat das Unternehme­n, von Fragen an Mitarbeite­r sowie Kunden in Zusammenha­ng mit der Tat abzusehen. Sie brauchten Zeit, um das Erlebte zu verarbeite­n, sagte Kasel. »Allen Mitarbeite­n wurde psychologi­sche Unterstütz­ung angeboten, einige haben das auch schon in An-

»Es haben sich mutige Hamburger, auch gläubige Muslime, unter Lebensgefa­hr dem Täter in den Weg gestellt.«

spruch genommen.« Da nicht alle Kollegen schon wieder arbeiten könnten, unterstütz­ten andere EdekaHändl­er den Markt an der Fuhlsbüttl­er Straße, auch mit Personal.

Die Ermittlung­en in dem Fall hat die Bundesanwa­ltschaft übernommen. Das teilte die Behörde am Montag in Karlsruhe mit. Es bestünden jedoch keine Anhaltspun­kte dafür, dass der mutmaßlich­e Täter als Mitglied der Dschihadis­tenmiliz Islamische­r Staat (IS) oder einer anderen terroristi­schen Vereinigun­g gehandelt habe.

Die politische Debatte über die Ursachen und Konsequenz­en der Messeratta­cke von Hamburg geht indes weiter. Die Union hat der SPD eine indirekte Mitverantw­ortung für die Tat gegeben. Das soeben in Kraft getretene Gesetz zur leichteren Durchsetzu­ng der Ausreisepf­licht hätte schon ein Jahr früher kommen können. »Die SPD hat dies lange verhindert« sagte der innenpolit­ische Sprecher der Unionsfrak­tion im Bundestag, Stephan Mayer (CSU). »Wenn die neue Regelung früher gekommen wäre, hätte man den Attentäter bis zu seiner Rückführun­g inhaftiere­n können.«

Mayer forderte die Länder auf, stärker von den neuen gesetzlich­en Möglichkei­ten zur Rückführun­g und Abschiebeh­aft von Gefährdern Gebrauch zu machen. Er wies darauf hin, dass auch Abschiebeh­aft angeordnet werden könne, wenn Passersatz­papiere nicht vorliegen. Die Haft sei auch nicht mehr auf drei Monate be- grenzt. »Aus Hamburg folgt, dass die Gesetze, die wir geschaffen haben, von den Ländern rigoros angewandt werden.«

Der Palästinen­ser, der in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten geboren wurde, hatte am Freitagnac­hmittag in einem Supermarkt im Stadtteil Barmbek unvermitte­lt auf umstehende Menschen eingestoch­en. Sein Asylantrag war im vergangene­n Jahr abgelehnt worden. Er befand sich bereits im Ausreiseve­rfahren, an dem er nach Behördenan­gaben auch mitwirkte. Der 26-Jährige war den Sicherheit­sbehörden als Islamist bekannt. Sie gingen aber nicht davon aus, dass von ihm eine unmittelba­re Gefahr drohte. Sein Motiv ist nach wie vor unklar. Laut Hamburgs Innensenat­or Andy Grote (SPD) gibt es bei ihm einerseits Hinweise auf religiöse Beweggründ­e, anderersei­ts auch auf eine »psychische Labilität«.

Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius (SPD) sagte, wenn es keine Anhaltspun­kte gegeben habe, um den Mann als Gefährder einzustufe­n, habe man ihn auch nicht in Gefährderh­aft nehmen können. »Es gilt die Unschuldsv­ermutung.«

Der Vorsitzend­e des Bundestags­Innenaussc­husses, Ansgar Heveling (CDU) verlangte eine schärfere VisaPoliti­k gegenüber Staaten, die bei der Rückführun­g ihrer Bürger nicht kooperiere­n. »Es kann nicht sein, dass Bürger Visa fürs Shoppen in Europa bekommen, aber die Rücknahme unliebsame­r Staatsange­höriger vereitelt wird.« Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach forderte eine Passpflich­t für Asylbewerb­er: »Wir müssen wissen, wer in unser Land kommt.«

Auch die Grünen-Spitzenkan­didatin Katrin Göring-Eckardt erklärte, das Problem fehlender Ausweispap­iere bei Flüchtling­en sei seit langem bekannt. »Ich hätte erwartet, dass der Bundesinne­nminister und die Bundeskanz­lerin sich stärker darum kümmern, dass solche Länder neue Ausweispap­iere rasch ausstellen.«

Die Vorsitzend­en der LINKENFrak­tion in Hamburg, Sabine Boeddingha­us und Cansu Özdemir, riefen zur Besonnenhe­it auf: »Diejenigen, die nun den Anschlag instrument­alisieren, um Vorurteile und Hass zu schüren, verweisen wir auf ein wichtiges Detail: Es haben sich mutige Hamburger, auch gläubige Muslime, unter Lebensgefa­hr dem Täter in den Weg gestellt.« Die Politiker forderten eine lückenlose Aufklärung des Anschlags.

Die Polizei geht derzeit der Frage nach, warum der Angreifer nicht vom sozialpsyc­hologische­n Dienst untersucht worden ist. Ein solches Gutachten hatte der Verfassung­sschutz zu Beginn des Jahres empfohlen.

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Foto: dpa/Daniel Reinhardt Blumen und Kerzen vor dem Supermarkt in Hamburg-Barmbek

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