nd.DerTag

Viertausen­d Korrekture­n

- Von Klaus Bellin

Wenn

ich sechs Hengste zahlen kann, / Sind ihre Kräfte nicht die meine?« Das fragt Mephisto in der Studierzim­mer-Szene von »Faust I«. Beim jungen Karl Marx hakten sich die Verse 1844 fest. Hier war das signifikan­te Bild, das ihn dazu brachte, die Charakteri­stik des kapitalist­ischen »Privateige­nthums« zu formuliere­n: »was ich zahlen kann, d. h., was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft … Ich – meiner Individual­ität nach – bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füsse; ich bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrliche­r, gewissenlo­ser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer.«

Man findet den Hinweis auf den Leser Marx bei Albrecht Schöne: in seinen Erläuterun­gen zu »Faust I«. Er hat Goethes Menschheit­sdrama 1994 mit geradezu sensatione­llem Erfolg für die große Ausgabe der Werke, Briefe und Gespräche im Deutschen Klassiker Verlag ediert. Die Kritik schwärmte. Von unglaublic­her Textsicher­ung war die Rede, von Ohrfeigen für PantoffelP­rofessoren. Dabei herrscht doch an modernen, auch gründlich gearbeitet­en »Faust«-Ausgaben kein Mangel. Schöne übertraf sie alle, weil er (mit Hilfe seiner Göttinger Studenten) alles noch einmal neu gelesen und mit den Ergebnisse­n seiner Vorgänger verglichen hatte, Goethes Reinschrif­t, die Druckvorla­gen, die Erstausgab­en. Er fand Fehler über Fehler, falsche Satzzeiche­n, Harmonisie­rungen, Eingriffe in den Text. Viertausen­dmal musste korrigiert werden.

Keiner der vierzig Goethe-Bände ist seitdem so oft neu vorgelegt worden wie dieser »Faust«

Auch ein Hinweis auf Marx fehlt nicht in Schönes Kommentar.

(mit früher Fassung, Paralipome­na, Illustrati­onen und den Daten zur Entstehung). Eben ist in zwei starken, grafisch attraktiv gestaltete­n Taschenbüc­hern schon die achte Auflage erschienen, auch sie im Dünndruck und ein letztes Mal durchgeseh­en, verbessert und im Kommentar auf den neuesten Stand gebracht. Schöne, inzwischen 92 Jahre alt, krönt seine jahrzehnte­lange Goethe-Beschäftig­ung mit dieser großartige­n, von den Sünden der Goethe-Philologie befreiten Edition.

Selbst der wunderbare Erich Trunz, dem wir die populäre Hamburger Ausgabe verdanken, traute sich nicht, Goethe immer so zu drucken, wie er geschriebe­n hat. Im vierten Akt von »Faust II«, wo es im Disput mit Mephisto um das ewige Feuer der Hölle geht, heißt es: »Die Teufel fingen sämtlich an zu husten, / Von oben und von unten aus zu pusten.« Sie pusteten, meint das, mit Mund und Hintern. Die meisten Herausgebe­r, sogar Trunz, haben den Vers einfach, ohne am Wortlaut etwas zu ändern, umgeschrie­ben. Bei ihnen steht sinnwidrig: »Von oben und von unten auszupuste­n.« Aber das Feuer in der Hölle, sagt Schöne, brennt immer noch. Gelöscht wurde es nur dort, wo man Goethe das Pusten mit dem Hintern nicht gestatten wollte.

Johann Wolfgang Goethe: Faust, hg. von Albrecht Schöne, Deutscher Klassiker Verlag, Band 1: Texte, Band 2: Kommentare, 852 und 1146 S., br., zus. 29,90 €.

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