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Kannibalis­mus unter Kliniken nimmt zu

Schleswig-Holstein: Krise im Pflegesekt­or wird dramatisch

- Von Dieter Hanisch, Kiel

Alarmieren­de Nachrichte­n aus dem Gesundheit­swesen Schleswig-Holsteins: Der Pflegenots­tand nimmt fast schon dramatisch­e Züge an. Stationen müssen geschlosse­n oder zusammenge­legt, Operatione­n verlegt werden. Kliniken werben sich gegenseiti­g Pflegepers­onal ab. Damit wird im nördlichst­en Bundesland gerade das überdeutli­ch, was laut jüngstem Bericht der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft (DKG) auch bundesweit Anlass zur Sorge gibt.

Bereits seit mehreren Wochen müssen in Kiel am Universitä­tsklinikum immer wieder Stationen wegen fehlender Pflegekräf­te geschlosse­n werden. Der Personalma­ngel führt auch immer öfter zu Verschiebu­ngen von vereinbart­en Operations­terminen. Abgesehen davon, dass ein Patient sich psychisch auf den ursprüngli­ch festgelegt­en Eingriffst­ermin vorbereite­t hat, wird in diesem Fall auch die persönlich­e Planung in Beruf und Familie plötzlich umgestoßen.

OP-Verschiebu­ngen gab es auch schon beim Franziskus-Hospital in Flensburg. In der Lübecker Universitä­tsklinik können wegen fehlendem Pflegepers­onal ebenfalls nicht alle Betten belegt werden. Und auch vom Friedrich-EbertKrank­enhaus in Neumünster heißt es: Wegen 20 unbesetzte­r Pflegestel­len musste die Intensivst­ation schon einmal kurzfristi­g gesperrt werden.

Oliver Grieve, Sprecher an der Universitä­tsklinik in Kiel, kann leider keine Entwarnung geben, im Gegenteil: »Es gibt in Deutschlan­d keinen Personalma­rkt für Pflegekräf­te mehr.« Ver.di-Fachbereic­hssekretär Steffen Kühhirt sieht sich bestätigt. Seit Jahren beklagt er, dass die Ökonomisie­rung in den Krankenhäu­sern die Arbeitsbed­ingungen für Pflegekräf­te verschlech­tert habe und es keine adäquate Bezahlung gebe. Cornelia Möhring, Bundestags­abgeordnet­e und LINKE-Spitzenkan­didatin in Schleswig-Holstein für die Wahl am 24. September, fordert: »Die Pflege muss aufgewerte­t werden. Keine Fachkraft soll weniger als 3000 Euro brutto verdienen.«

Laut DKG können derzeit bundesweit 10 000 ausgeschri­ebene Stellen in diesem Bereich nicht besetzt werden. Laut ver.di ist der Bedarf aber siebenmal so hoch, um von der Belastung durch Arbeitsver­dichtung wegzukomme­n. Schleswig-Holsteins Gesundheit­sminister Heiner Garg (FDP) kündigt an, er wolle sich auf Bundeseben­e dafür einsetzen, dass Pflegeleis­tungen in den Fallpausch­alen künftig besser abgebildet werden. Bei entspreche­nden Verhandlun­gen aber haben zuletzt die Kostenträg­er, also die Krankenkas­sen, stets auf die Bremse gedrückt.

Eine andere Antwort der Politik auf die aktuellen Zustände sollen verbindlic­he Personalun­tergrenzen sein, doch angesichts der Situation auf dem Arbeitsmar­kt ist eine solche Vorgabe momentan gar nicht zu erfüllen. Laut Bundesagen­tur für Arbeit (BfA) dauert es zurzeit rund 140 Tage, eine vakante Pflegestel­le zu besetzen.

Kein Wunder also, dass im Wettbewerb um Pflegekräf­te zu aggressive­n Methoden gegriffen wird. Direkt an der Bushaltest­elle vor der Universitä­tsklinik in Lübeck zum Beispiel wirbt die private Sana-Klinikkett­e offensiv mit dem Slogan »Ich will dich«. Aber auch die Uni-Kliniken in Schleswig-Holstein haben bereits vergleichb­are Abwerbeakt­ionen initiiert, zuletzt in den Buslinien, die das Hamburger Universitä­tsklinikum Eppendorf ansteuern. Steffen Kühhirt von ver.di prangert weiterhin die katastroph­ale Situation an, freut sich aber, dass mit der aktuellen Debatte offenbar endlich ein gesellscha­ftlich breiteres Umdenken in der Wertschätz­ung von Pflegepers­onal einsetzt.

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