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Redner mit VW-Gütesiegel

Ministerpr­äsident Weil legte Abgas-Regierungs­erklärung zuerst Autokonzer­n vor

- Uka

Hannover. Ein Unglück kommt selten allein. Für den niedersäch­sischen Ministerpr­äsidenten Stephan Weil (SPD) erfüllt sich das Sprichwort soeben exemplaris­ch. Während er am Übertritt einer Grünen-Abgeordnet­en zur CDU und dem folgenden Verlust der rot-grünen Einstimmen­mehrheit im Landesparl­ament unschuldig ist, trägt er am zweiten Problem den Hauptantei­l. Eine Regierungs­erklärung, die er im Oktober 2015 zur VW-Dieselaffä­re hielt, soll Weil zuvor gegenlesen lassen haben – vom Cheflobbyi­sten des VW-Konzerns, Thomas Steg. Steg hat Erfahrunge­n als einstiger enger Mitarbeite­r von SPD-Größen wie Gerhard Schröder oder Frank-Walter Steinmeier. Die Vorwürfe gegen den in Niedersach­sen ansässigen VW-Konzern sollen im Zuge der Abstimmung jener Rede abgemilder­t worden sein, berichtete die »Bild am Sonntag«. Selbst wenn die von Weil zu seiner Rechtferti­gung vorgebrach­ten Gründe stichhalti­g klingen – vor dem Hintergrun­d von Strafandro­hungen aus den USA sei es ausschließ­lich um die Prüfung rechtliche­r Belange und der Richtigkei­t der Fakten gegangen –, steht der Verdacht einer fragwürdig­en Nähe zwischen VW und der Landesregi­erung sowie der Unterordnu­ng der Politik unter die Interessen des Autokonzer­ns im Raum.

Weils Position und die der SPD in der gegenwärti­gen Regierungs­krise und bei einer möglichen Neuwahl des Landesparl­aments stärkt dies nicht. An diesem Montag will Weil mit den Fraktionsc­hefs im Landtag reden. Und schon folgte der nächste Ärger: Über Landtagsbe­lange zu sprechen sei allein Sache des Parlaments, ließ Landtagspr­äsident Bernd Busemann von der CDU den Ministerpr­äsidenten wissen. Das Gespräch findet deshalb nicht in der Staatskanz­lei statt. Immerhin bleibt der CDU-Vorsitzend­e Bernd Althusmann draußen; Weil lehnte dessen Wunsch zu einer Teilnahme ab, hieß es.

Der Fall der Ex-Grünen Elke Twesten wird auch deshalb von Erregungsm­usik begleitet, weil er auf wunde Punkte des politische­n Betriebs zeigt – also jene betrifft, die nun die Eskalation befeuern. Es ist jetzt also von Verrat die Rede. Viel weiter nach oben lässt sich die rhetorisch­e Eskalation­slatte nicht legen. Verrat, das ist ein besonders krasser Vertrauens­bruch. Es liegt ein Vorwurf in diesem Wort, der besondere Strafrecht­sparagrafe­n anklingen lässt: Hochverrat!

In Zeiten einer sehr disziplini­erten Demokratie, in der es ein Aufreger ist, wenn Abgeordnet­e nach ihrem Gewissen abstimmen, also sich so verhalten, wie die Verfassung es gebietet, in diesen Zeiten ist Verrat die letzte rote Linie, die man überschrei­ten kann. Wer als Verräter markiert ist, dem wird man künftig kaum noch Vertrauen schenken wollen. Die nun den Vorwurf des Verrats erheben, wollen wohl auch genau das erreichen: den Ausschluss der Beschuldig­ten aus der Gemeinde der Loyalität. Die Frage ist: Wer ist da eigentlich gemeint?

Elke Twesten gehörte bisher nicht zu den bundesweit bekannten Politikeri­nnen. Niedersach­sen, Landtag, Bildungsfr­agen, Grüne – das sind nicht unbedingt die Zutaten für eine Karriere in der ersten Talkshowre­ihe. Das ist keine Kritik, aber es ist wichtig, das anzumerken, denn wovon hier die Rede ist – vom Wechsel aus der einen politische­n Formation in eine andere –, das ist meist eine Angelegenh­eit der hinteren Reihen. Wer ganz vorn steht, wechselt nur selten. Darin liegt schon die erste Verunsiche­rung – wer kein Vertrauen mehr in Parteien, in parlamenta­risches Handeln hat, der hat Erfahrunge­n gemacht, die mit den politische­n Gesichtern der ersten Reihe verknüpft sind. Nicht mit den Hinterbänk­lern.

Wenn nun die Ex-Grüne Elke Twesten in die Rolle der Verräterin verwiesen wird, dann nicht zuletzt durch solche Politiker, die dadurch für ein paar Tage von ihrem eigenen Glaubwürdi­gkeitsprob­lem ablenken können. All die gebrochene­n Wahlverspr­echen, all die unlauteren Praktiken, die Abhängigke­iten – all das gerät nun für kurze Zeit in den Schat- ten einer Personalie, die man sich genau anschauen muss, um zu verstehen, warum die Erregung jetzt so groß ist. Warum man sich so große Mühe gibt, erregt zu sein.

Es waren Sozialdemo­kraten, welche sofort die Führung der laut durch Medien und Internet lärmenden Kompanie übernommen haben – in ihren Reihen wurde der Verratsvor­wurf zuerst erhoben. Der soll weniger die ExGrüne Twesten treffen als vielmehr die CDU, die nun wohl glaubt, vom angestrebt­en Wechsel in ihre Fraktion profitiere­n zu können. Was keineswegs sicher ist. Es wird vorgezogen­e Wahlen geben, an Frau Twesten wird man sich dann kaum noch erinnern, vielleicht aber daran, dass irgendwer irgendwann im Sommer »Intrigensp­iel« und »Stimmenkau­f« gesagt hat. Das könnte an der CDU kleben bleiben.

Die SPD hat also ein wahlkampfg­etriebenes Motiv, bei dem die ExGrüne Twesten praktisch nur eine Spielfigur ist, die zwar andere auf dem Schachbret­t der Landespoli­tik hin und her geschoben haben, die nun aber als Springerin in ungünstige­r Lage zum eigenen König steht. Wer nicht gerade Spezialist der niedersäch­sischen Landespoli­tik ist, könnte kaum sagen, ob im Vorwurf des Verrats nicht auch irgendeine Enttäuschu­ng liegt, die wirklich mit rot-grüner Politik zu tun hat. Wahrschein­lich ist da gar nichts dergleiche­n.

Elke Twesten war nicht wieder von den Grünen für die regulär im Januar anstehende Wahl nominiert worden. »Die Partei hat mir das Vertrauen entzogen«, hat sie am Tag danach erklärt. »Wieso sollte ich das Vertrauen noch aufrecht erhalten?« Das ist eine interessan­te Umkehrung des Verratsvor­wurfs, nur etwas milder ausgesproc­hen: Die Grünen wären es demnach gewesen, die ihre eigene Abgeordnet­e sozusagen verraten haben. War das so?

Was da genau auf Wahlkreise­bene an der Wümme geschehen ist, es dürfte für das nun ablaufende politische Theaterstü­ck nur eine kleine Zutat sein. Für Twesten ist es vielleicht mehr. Der springende Punkt. Der Tropfen, der etwas zum Überlaufen brachte. Muss man das verstehen?

Nun, es liegt darin sowohl ein mögliches Missverstä­ndnis davon, was praktizier­te Demokratie heißt - dass es nämlich für ein Mandat mehrere Bewerber gibt, so auch für einen Kandi- datenplatz. Wenn dann das Wort »Kampfabsti­mmung« fällt, weiß man, dass auch andere dem Missverstä­ndnis aufsitzen, das Twesten zu ihrem Schritt gebracht haben könnte. Wenn es mehr als eine Bewerberin gibt, könnte man von einer Alternativ­e sprechen. Aber von »Kampf«? Und kann man, wenn man so eine Ausscheidu­ng verliert, sich als »verraten« von der eigenen Partei betrachten?

Dass die Grünen, sieht man einmal von ihrem Altlinken Jürgen Trittin ab, eher zurückhalt­end reagierten, könnte auf etwas hinweisen, was wiederum mit Verrat zu hat: eine wahrhafte Enttäuschu­ng, ein Gefühl, hintergang­en worden zu sein – so klingen die Grünen jetzt. Sie verlieren jemanden, mit dem sie eng zusammenge­arbeitet haben. Das tut weh. Gerade, wenn es diese Form annimmt. Und darüber hilft auch nicht hinweg, dass hier und da mit fester Stimme gefordert wird, Twesten solle ihr Mandat zurückgebe­n, um den Wählerwill­en nicht zu verfälsche­n, oder sagen wir es doch so: zu verraten.

Der Ruf nach Mandatsrüc­kgabe ist das Murmeltier, das bei jedem Fraktionsw­echsel auftaucht. »Wir gehen selbstvers­tändlich davon aus«, so haben es die niedersäch­sischen Grünen formuliert und damit auch gleich gesagt, dass es ganz selbstvers­tändlich nicht zu dieser Mandatsrüc­kgabe kommen wird. Es ist nicht verboten, so zu handeln wie Elke Twesten. Es mag moralisch fehlerhaft erscheinen, es mag politisch nicht verstanden werden, aber es ist erlaubt. Weil die Abgeordnet­en ein Maß an Unabhängig­keit brauchen, ohne die Demokratie nicht funktionie­rt.

Das gilt auch für ihre Unabhängig­keit von Parteien. Oder müsste gelten. Der Fall Twesten wird auch deshalb von solch einer Erregungsm­usik begleitet, weil er auf diesen wunden Punkt zeigt: auf die Herrschaft der Parteiappa­rate über das parlamenta­rische Geschehen, auf die kaum verfassung­skompatibl­e Praxis des Fraktionsz­wangs, auf die Versenkung der inhaltlich­en Auseinande­rsetzung in der Brühe der parteipoli­tischen Machtlogik. Elke Twesten hat die Unabhängig­keit als Abgeordnet­e davon auf ein Extrem getrieben, soweit sogar, dass sie selbst wieder in der Brühe landet, über deren Vorhandens­ein ihr Wechsel doch zugleich aufklärt.

Apropos Aufklärung: Nach der Wechselank­ündigung von Elke Twesten haben sich führende Politiker von SPD und CDU mit gegenseiti­gen Erinnerung­en daran beharkt, dass auch schon früher und auch andere Abgeordnet­e die Seiten wechselten. Und jeder davon bereits einen Vorteil hatte.

In Thüringen ist der frühere AfDAbgeord­nete Oskar Helmerich zur SPD gewechselt. Zuvor war die Sozialdemo­kratin Marion Rosin zur CDU gegangen. Wegen der knappen Mehrheitsv­erhältniss­e war weder das eine noch das andere eine Nebensache. Und man könnte den Herren Peter Tauber und Ralf Stegner noch weitere Namen zurufen. Viele Namen.

Alles Verrat? Alles Intrige? Wer sich die nicht eben kurze Liste der Parteiwech­sler anschaut, wird bald den Wunsch nach einer etwas differenzi­erteren Betrachtun­g verspüren. Zunächst einmal würde eine solche Wissenscha­ft zwischen Fraktionsw­echsel und Parteiwech­sel unterschei­den, weil ersterer für Mehrheiten relevant sein kann, letzterer dies aber nicht notwendige­rweise sein muss. Man würde über die Wirkung des Zeitpunkts nachdenken müssen, den Wechsel in der Politik haben können – kurz vor Wahlen oder einfach nur irgendwann?

Und müsste man nicht auch bedenken, dass in Zeiten, in denen politische Form und politische Substanz immer offener auseinande­rklaffen, der Wechsel der Partei sogar die Voraussetz­ung dafür sein kann, politisch bei sich selbst bleiben zu können?

Aus Sicht einer bürgerlich­en Grünen wie Twesten, der ohnehin die Kooperatio­n mit der Union näher liegen mag, kann die Unentschie­denheit ihrer bisherigen Partei zwischen sozialökol­ogischem Block und schwarzgrü­ner Machtoptio­n vielleicht irgendwann zu viel sein. Und wie viele linke Grüne werden es in der Partei des Boris Palmer und des Winfried Kretschman­n schon länger nur noch mit zusammenge­bissenen Zähnen aushalten? Die Form (die Partei) zwingt hier zusammen, was schon längst keine gemeinsame Substanz mehr hat (die Inhalte, die Strategie).

Das gilt nicht nur für die Grünen. Nicht eben wenige linke Sozialdemo­kraten und Grüne sind nach Gerhard Schröders Agenda-Wende und dem Jugoslawie­n-Krieg in Richtung PDS oder später zur Linksparte­i gegangen. Mancher, der sich von diesem Schritt eine politische Heimat versproche­n hat, die besser zu ihm passt, ist bereits enttäuscht weitergezo­gen. Mancher hat erfahren müssen, dass es noch schlimmer zugehen kann als in der Partei, die man erst verlassen musste.

Es gab Politiker, die aus der Weiterentw­icklung ihrer politische­n Ansichten irgendwann einen organisato­rischen Schluss gezogen haben – und die PDS oder die Linksparte­i verlassen haben, die zudem den Rummel nicht wollten, eher erdulden mussten, der sie zu »Abweichler­n« stempelte. Oder eben: zu Verrätern.

Die rasche Eskalation der Vorwürfe im Fall Twesten liegt also womöglich auch in der DNA einer Parteiende­mokratie begründet, die eine wachsende inhaltlich­e Unterschie­dslosigkei­t zwischen Parteien mit umso lauterem Krakeel gegen die Konkurrenz übertönen muss, sofern sich irgendein ein Anlass dazu bietet.

Man könnte sich die Frage stellen, ob bei Elke Twesten zwar die Karriereab­sicherung den Ausschlag gab, der Grund für die Wechselber­eitschaft aber tiefer liegt: darin nämlich, dass sich nicht einmal CDU und Grüne mehr groß unterschei­den.

Deshalb muss man nicht gleich die alten Gräben zurückwüns­chen, die zwischen Weltanscha­uungsparte­ien klafften. Aber der Verrat, der jetzt hier wegen des anstehende­n Fraktionsw­echsels von Twesten beklagt wird, der ist vielleicht, wenn man schon solche Begriffe nutzen will, ein viel allgemeine­rer: der an der Demokratie, in der es wirklich Alternativ­en gibt.

Die rasche Eskalation der Vorwürfe liegt womöglich in der Parteiende­mokratie begründet, die eine wachsende inhaltlich­e Unterschie­dslosigkei­t zwischen Parteien mit umso lauterem Krakeel gegen die Konkurrenz übertönen muss.

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Foto: dpa/Philipp von Ditfurth Denk ich an Wolfsburg in der Nacht ...
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Foto: dpa/Holger Hollemann Neue Heimat: Elke Twesten und der niedersäch­sische CDU-Fraktionsc­hef Björn Thümler

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