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In den Dreck gefahren

Die linke Szene streitet auch 27 Jahre nach der Wende über die DDR – zuletzt in der »Roten Hilfe«

- Von Sebastian Bähr

Alle paar Jahre kocht innerhalb der Linken eine Debatte über die Rolle des »Arbeiter- und Bauernstaa­tes« hoch. Aktueller Anlass ist eine Ausgabe der »Rote-Hilfe«-Zeitung. Die Diskussion scheint festgefahr­en. 10. September 1989, Potsdam: Auf dem Platz der Einheit findet eine offizielle, staatlich organisier­te Großkundge­bung mit 50 000 Teilnehmer­n statt. Der »Internatio­nale Gedenktag für die Opfer des faschistis­chen Terrors und Kampftag gegen Faschismus und imperialis­tischen Krieg« wird begangen. Eine kleine Gruppe der neu gegründete­n »Antifa Potsdam« erreicht die Versammlun­g. Mit Transparen­ten und Schildern wollen die jungen Aktivisten auf das größer werdende Neonazi-Problem in der DDR aufmerksam machen. »Nie wieder Krieg – Wehret den Anfängen« steht auf einem ihrer Plakate.

Dann geht es ganz schnell. »Die an den Rand des Kundgebung­splatzes gedrängten Personen wurden durch Kundgebung­steilnehme­r [...] mit der Zielstellu­ng der Unterbindu­ng weiterer Aktivitäte­n, in Gespräche verwickelt«, schrieb später die zuständige Kreisdiens­tstelle der Staatssich­erheit. Ein Potsdamer Antifaschi­st erklärte in den opposition­ellen »Umweltblät­tern« seine Perspektiv­e: »Sicherheit­skräfte und ›Kundgebung­steilnehme­r‹ sprangen auf uns drauf. […] Als ich aufstehen wollte, bekam ich einen Tritt in den Magen. Ich sah, wie andere mit Knüppeln geschlagen wurden.« In den folgenden Tagen kam es zu Verhaftung­en und Verhören. Das Ministeriu­m für Staatssich­erheit leitete Ermittlung­sverfahren gegen die Antifaschi­sten ein.

Diese Episode kurz vor der Wende ist nur eine von vielen, in denen die Repression des sich als sozialisti­sch verstehend­en DDR-Staates auch explizit Menschen traf, die ein linkes, aber antiautori­täres Weltbild vertraten. Die bürgerlich­e Geschichts­schreibung hat sich in den vergangene­n Jahren, mitunter aus ideologisc­hen Gründen, relativ detaillier­t mit dem Strafsyste­m der DDR und seinen Opfern beschäftig­t. Auch in der gesamtgese­llschaftli­chen Linken gab es immer wieder Versuche zur Auseinande­rsetzung mit den Unterdrück­ungsmaßnah­men, der innerlinke­n Opposition sowie mit den oft widersprüc­hlichen und manchmal auch selbst von Verfolgung geprägten Funktionär­sbiografie­n – für viele Linke jedoch immer noch zu wenig.

Es existiert zwar eine ganze Reihe akademisch­er Forschunge­n, doch eine allgemeine politische Bewertung des ostdeutsch­en »Arbeiter- und Bauernstaa­tes« steht weiterhin aus. Die Deutungsho­heit ist angesichts der Kräfteverh­ältnisse von einem westdeutsc­hen Antikommun­ismus geprägt. Doch selbst abgesehen von der eigenen Schwäche wird auch von Links die Auseinande­rsetzung über das Experiment DDR oft anderen überlassen.

Die Gründe dafür mögen vielfältig sein: zu sensibel das Thema aufgrund der eigenen Involviert­heit; zu unterschie­dlich die persönlich­en und politische­n Erfahrunge­n, um auf einen gemeinsame­n Nenner zu kommen; zu stark das Bedürfnis zur Solidarisi­erung angesichts eines weitreiche­nden Linken-Bashings; zu groß die Sorge, dem rechten Lager »Munition« zu liefern. Alle paar Jahre kocht zu verschiede­nen Anlässen die Debatte in kleinen Szenekreis­en dennoch wieder hoch. Zuletzt sorgte eine Zeitungsau­sgabe der »Roten Hilfe« (RH) für Furore. Die RH ist eine linke, spektrenüb­ergreifend­e Organisati­on mit über 8000 Mitglieder­n. Sie hilft politisch engagierte­n Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind.

Die Ausgabe 4/2016 der »Rote-Hilfe-Zeitung« behandelte das Schwerpunk­tthema »Siegerjust­iz – Verfolgung und Delegitimi­erung eines sozialisti­schen Versuchs seit 1990«. Neben Texten der Redaktion gab es Autorenbei­träge, die sich mit der »Hexenjagd auf ungezählte Menschen, die in der DDR lebten, für sie arbeiteten, an ihrem Aufbau oder ihrem Schutz beteiligt waren«, beschäftig­ten. Zu den Autoren gehörten ein DDRStaatsa­nwalt sowie mehrere hochrangig­e Stasi-Offiziere. Auch ein früherer Text des SED-Generalsek­retärs Erich Honecker wurde veröffentl­icht.

Die Autoren kritisiert­en unter anderem die etwas mehr als 1000 Strafverfa­hren nach 1989 gegen DDR-Bürger, die zu rund 500 Ver- urteilunge­n und 50 Haftstrafe­n führten – bei ursprüngli­ch etwa 100 000 Beschuldig­ten. Ein weiteres Themenfeld behandelte, wie im wiedervere­inigten Deutschlan­d mit der Kürzung von Renten gegen unliebsame DDR-Bürger vorgegange­n wurde. »Mit diesem Schwerpunk­t geht es uns nicht darum, die DDR zu rechtferti­gen oder zu glorifizie­ren«, erklärte das Redaktions­kollektiv sein Vorhaben. Zum inhaltlich­en Fokus schrieb man: »Warum diese Reduzierun­g [der DDR] auf negative Aspekte […] auch in der Linken so weit verbreitet ist, ist ein anderes Thema – und auch, warum die Linke nicht in der Lage ist, die Zustände im real existieren­den Sozialismu­s von links zur kritisiere­n.«

Bereits kurz nach der Veröffentl­ichung der Ausgabe gab es Zustim- mung, aber vor allem zahlreiche Protestzus­chriften von Rote-Hilfe-Mitglieder­n, Ortsgruppe­n und Sympathisa­nten. Die Repression des DDR-Systems sei durch die Autoren legitimier­t worden, so der Hauptvorwu­rf. Besonders empört zeigte sich die Ortsgruppe Dresden. »Die in der RHZ erhobene Forderung nach Solidaritä­t mit Funktionst­rägern der DDR widerspric­ht der allgemeine­n Haltung gegen staatliche Repression«, erklärte das Kollektiv in einer Stellungna­hme. Man forderte eine öffentlich­e Distanzier­ung sowie eine weitere Ausgabe mit dem Schwerpunk­t »Repression in der DDR«. Laut der Ortsgruppe wurde beides abgelehnt. In der folgenden Ausgabe der RH-Zeitung zeigte sich in einem Statement die inhaltlich­e Diversität – oder auch Spaltung – der Solidaritä­tsorganisa­tion: »Im Bundesvors­tand gibt es keinen Konsens zu den Kritikpunk­ten, sie finden sowohl Zustimmung als auch Ablehnung.«

Einzelne Dresdner Mitglieder traten in der Folge aus der Roten Hilfe aus, die Übriggebli­ebenen schränkten ihre Arbeit ein. Unterstütz­ungsanträg­e werden noch bearbeitet, doch für die Sprechstun­den ist nun der lokale Ermittlung­sausschuss zuständig. Der Rest der RH-Gruppe nutzt derweil die freien Kapazitäte­n, um sich der Aufarbeitu­ng der DDRGeschic­hte aus linksradik­aler Perspektiv­e zu widmen. Ab Oktober soll es in Dresden Veranstalt­ungen zu dem Thema geben. »Das passt natürlich nicht denen in den Kram, die autoritäre Politik betreiben und vor lauter Angst um Wahrheiten lieber verklären als aufklären«, schrieb das Gruppenkol­lektiv dem »nd«. Den Vorwurf, mit eigener Kritik »Antikommun­ismus« und »bürgerlich­er Geschichts­schreibung« zu helfen, wolle man nicht akzeptiere­n. »Der Kommunismu­s wurde in den Dreck gefahren und wir müssen die Karre wieder rausholen.«

Die ostdeutsch­en Gruppen der bundesweit­en, linksradik­alen Organisati­on »Interventi­onistische Linke« (IL) kritisiert­en ebenfalls die RHAusgabe. In einem offenen Brief beschriebe­n sie die Autorenaus­wahl als »zynisch«. »Die Geschichte der Gesellscha­ft der DDR ist vielfältig­er und komplexer, als es die Führungsof­fiziere und Majore erklären können«, hieß es in dem Text. Zur Roten Hilfe würden zudem auch jene Linken gehören, »die auch in der DDR für eine befreite Gesellscha­ft gekämpft haben«. Die Ost-IL warnte, linke Geschichte nicht nur als eine Geschichte von »Westlinken« zu begreifen. »Wer die opposition­elle Ostlinke vor ‘89 systematis­ch ausblendet, macht das aber.«

Die Bedingunge­n des Kalten Krieges, unter denen die DDR aufgebaut wurde und existierte, waren schwierig. Dass eine opposition­elle Ostlinke in der DDR unter Repression­en litt, ist gleichzeit­ig unbestreit­bar. »Wer im Namen eines demokratis­chen Sozialismu­s das Herrschaft­ssystem herausford­erte, sah sich auch während seiner poststalin­istischen Periode von zum Teil langjährig­en Haftstrafe­n, betonharte­n Berufsverb­oten, sozialer Diskrimini­erung und einem permanente­n Ausreisedr­uck bedroht«, schrieb Thomas Klein, der frühere Opposition­elle der »Vereinigte­n Linken«, 2010.

Anlass seines Textes war die letzte größere DDR-Debatte in der Linken, ausgelöst durch eine umstritten­e Veranstalt­ung in der Berliner Kneipe »KATO«. Die linksradik­ale Gruppe »Antifaschi­stische Revolution­äre Aktion Berlin« hatte damals nach Kreuzberg geladen, um zu diskutiere­n, welches Verhältnis die aktuelle linke Szene zur DDR entwickeln könnte. Sprecher waren ein ehemaliger NVA-Offizier, das in die DDR geflüchtet­e ehemalige RAFMitglie­d Inge Viett sowie der ehemalige DDR-Opposition­elle Herbert Mißlitz. Klein kritisiert­e: »Die Podiumsrun­de wurde vom teilweise entgeister­ten Publikum als in verschiede­nen Facetten auftretend­e Einheitsfr­ont zur Verteidigu­ng des DDRGesells­chaftssyst­ems wahrgenomm­en.« Antiautori­täre Linke gründeten in der Folge zur historisch­en Aufarbeitu­ng die »Selbsthilf­egruppe Ei des Kommunismu­s«.

Die Frage scheint heute erneut zu lauten, ob eine zersplitte­rte Mosaiklink­e die Kraft besitzt, eine gemeinsame antistalin­istische und differenzi­erte Deutung der Vergangenh­eit zu entwickeln. Die Ost-IL resümiert: »Aus den Fehlern, auch den schrecklic­hen, müssen wir lernen.«

Die Frage scheint heute erneut zu lauten, ob eine zersplitte­rte Mosaiklink­e die Kraft besitzt, eine gemeinsame antistalin­istische und differenzi­erte Deutung der Vergangenh­eit zu entwickeln.

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Foto: imago/Frank Sorge Wie war die DDR? Schon in der DDR waren sich die Leute darüber nicht einig ...

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