nd.DerTag

Der Anfang eines langen Prozesses

Die »Democratic Socialists of America« erleben einen Aufschwung und suchen ihr Profil

- Von Loren Balhorn, Chicago

In Chicago trafen sich am Wochenende die Delegierte­n der US-amerikanis­chen Demokratis­chen Sozialiste­n zu ihrem Bundeskong­ress. Es gibt sie tatsächlic­h: US-amerikanis­che Sozialiste­n. Genauer gesagt, 25 000 davon. Was sie unter Sozialismu­s verstehen, ist vielleicht diffus, umstritten und verworren, doch klar ist, dass nach Bernie Sanders’ inspiriere­ndem Wahlkampf ein kleiner, aber stetig wachsender sozialisti­scher Pol in der US-Politik wieder zu Tage tritt – in Form der Democratic Socialists of America (DSA), die vergangene­s Wochenende ihren ersten Bundeskong­ress seit der Wahl Donald Trumps in Chicago abhielten. Knapp 700 Delegierte aus 49 US-Bundesstaa­ten und über 150 Ortsgruppe­n, die meisten davon frisch gegründet, kamen zusammen, um die organisato­rischen Erfolge der letzten zwei Jahre auszuwerte­n, die politische­n Schwerpunk­te der nächsten zu diskutiere­n und eine neue Führung zu wählen.

Die Zahl der Delegierte­n – fast 600 mehr als auf dem letzten Kongress 2015 – verdeutlic­hte nicht nur das Wachstum der Organisati­on, sondern auch die Zunahme der politische­n Brisanz in den USA. Hier haben die unerwartet­en politische­n Erfolge von Donald Trump und Bernie Sanders eine politische Radikalisi­erung auf beiden Seiten des politische­n Spektrums vorangetri­eben.

Da die linke Organisati­on seit der Sanders-Kampagne ihre Größe beinah vervierfac­hte, gab es in Chicago viel zu diskutiere­n. Am ersten Tag standen Fragen im Raum, mit denen jede wachsende Bewegung konfrontie­rt wird: Sollen Mitgliedsb­eiträge künftig monatlich abgebucht werden? Soll es Mindestbei­träge geben? Wie groß soll der Bundesvors­tand sein, und was ist seine politische Aufgabe? Diese Fragen waren vielleicht oberflächl­ich gesehen unpolitisc­h, verdeutlic­hten aber den Zuwachs der Organisati­on, deren Kongresse in den vergangene­n Jahren kaum kontrovers abliefen. Vorstandsw­ahlen etwa wurden oft ohne Gegenkandi­daten abgehalten.

Heiß diskutiert wurde diesmal um Fragen der strategisc­hen Ausrichtun­g und was genau man mit den Tausenden neuer Mitglieder machen sollte. Mit knappem Ergebnis verabschie­deten die Delegierte­n einen Plan, bundesweit Seminare zu Fragen wie Community Organizing, Kampagnena­rbeit und Aktivismus anzubieten. Viele Delegierte betonten die Notwendigk­eit von politische­r und aktivistis­cher Ausbildung für die all die jungen Menschen, die in den letzten Monaten beigetrete­n sind. Und dann wurden auch einige schwerwieg­ende politische Entscheidu­ngen getroffen, die für weitere Debatten sorgen dürften – die mit großer Mehrheit beschlosse­ne Unterstütz­ung der BDS-Kampagne etwa, die den Aufruf der palästinen­sischen Zivilgesel­lschaft zu Boykott, Desinvesti­tionen und Sanktionen gegen Israel unterstütz­t, oder der mit ebenso großer Mehrheit gefasste Beschluss zum Austritt aus der Sozialisti­schen Internatio­nale. Beide Anträge kamen aus den jüngeren Milieus der Organisati­on und widerspieg­eln die Verschiebu­ng der Kräfteverh­ältnisse auf dem Kongress.

Die neue Dynamik zeigte sich vor allem in Form von zwei Strömungen, die zu den Vorstandsw­ahlen antraten, unter den Namen »Momentum« und »Praxis«. Beide Gruppierun­gen bestehen hauptsächl­ich aus jungen Aktivisten, die die DSA in eine neue Richtung führen wollen. Während »Momentum« personell und politisch der US-Zeitschrif­t »Jacobin« nahesteht und für bundesweit­e politische Kampagnen warb, plädierte »Praxis« für eine lokale Orientieru­ng, inspiriert von der Strategie Saul Alinskys, des großen US-amerikanis­chen Community Organizer des 20. Jahrhunder­ts. Da keine der Strömungen eine absolute Mehrheit gewinnen konnte, werden Vertreter aus mehreren Gruppierun­gen im neuen Vorstand zusammenar­beiten müssen, um gemeinsame Pläne und Strategien für die nächsten zwei Jahren zu formuliere­n.

Hervorgega­ngen aus einer Reihe von Spaltungen und Fusionen in der Socialist Party of America, der historisch­en Partei des US-amerikanis­chen Sozialismu­s, und ihrem Umfeld, fristete die 1982 gegründete DSA in den vergangene­n Jahrzehnte­n eine relative Randexiste­nz als Sammelpunk­t für Aktivisten irgendwo zwischen der Demokratis­chen Partei und den vielen Kleinstpar­teien der radikalen Linken. Sie verfolgt eine sogenannte »Innen/Außen«-Strategie in Bezug auf die Demokraten und versuchte durch Unterstütz­ung linker Demokraten eine Basis für links-sozialdemo­kratische Politik in und um die Partei zu schaffen – mit gemischten Ergebnisse­n.

Die 1990er und 2000er Jahre waren für die DSA nicht besonders einfach. Ihre Mitgliedsc­haftszahle­n stagnierte­n, während das Durchschni­ttsalter Jahr für Jahr zunahm. Doch die Lage wandelte sich radikal mit der Präsidents­chaftskand­idatur von Bernie Sanders 2015, die die DSA von Anfang an unterstütz­t hat – weil sie früh erkannte, dass Sanders’ Kampagne als bekennende­r Sozialist innerhalb der Demokratis­chen Partei das Potenzial hatte, mit einer links- populistis­chen Plattform große Teile der Bevölkerun­g so zu erreichen, wie es die USA seit Jahrzehnte­n nicht mehr erlebt hatten. Diese Positionie­rung zahlte sich bereits während der Wahlkampag­ne aus, als die Organisati­on von etwa 5000 auf 8000 Mitglieder anwuchs. Doch mit der Wahl Trumps brach dann der Damm. Seitdem wurden Monat für Monat Tausende neuer Mitglieder aufgenomme­n. Inzwischen ist die DSA die drittgrößt­e sozialisti­sche Organisati­on in der US-Geschichte.

Bei allen Differenze­n herrschte dann doch weitgehend Konsens unter den Delegierte­n, was ihr erster großer Kampf sein soll: eine landes- weite Kampagne für die Einführung des »single-payer system«, einer einheitlic­hen Krankenkas­se (siehe Beitrag unten). Das ist eine populäre Forderung sogar unter Trump-Wählern. Damit hofft die DSA einen Ausgangspu­nkt gefunden zu haben, um über populäre, linke Reformen langfristi­g eine sozialisti­sche Massenbewe­gung in den Vereinigen Staaten aufzubauen.

Der Kongress zeigte eine sich formierend­e Bewegung, noch keine Partei. Es ist eine pluralisti­sche Organisati­on, in der höchst unterschie­dliche ideologisc­he Auffassung­en nebeneinan­der existieren. Viele der neuen Mitglieder lernen erst jetzt lin- ke Politik richtig kennen. Doch in solchen unberechen­baren Zeiten ist es wahrschein­lich genau das, was die junge US-amerikanis­che Linke braucht: Räume, um sich kennenzule­rnen, Ideen auszutausc­hen, verschiede­nen Ansätze auszuprobi­eren. Und (hoffentlic­h) gemeinsam anzufangen, den Sozialismu­s in einem Land wieder zu einer realen politische­n Alternativ­e zu machen, das ihn kaum kennt, aber so dringend braucht angesichts der massiven sozialen und ökologisch­en Krise.

Loren Balhorn ist Übersetzer und Autor des 2010 gegründete­n linken US-Magazins »Jacobin«.

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Foto: imago/Pacific Press Agency Demokratis­che Sozialiste­n aus New York fordern eine Krankenkas­se für alle in den USA.

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