nd.DerTag

Wandern »die Arbeiter« nach rechts?

Über die Unschärfen einer politisch wichtigen Kategorie und die Ergebnisse der jüngeren Landtagswa­hlen

- Von Horst Kahrs

Ist es der AfD bei den zurücklieg­enden Wahlen gelungen ist, die »Abgehängte­n« zu mobilisier­en? Ist sie etwa gar die neue Arbeiterpa­rtei? Einige Anmerkunge­n zu einem Parteiensy­stem in Bewegung. Grundsätzl­ich gilt: Der Zusammenha­ng zwischen sozialer Lage, sozialem Status, ideologisc­her Orientieru­ng (»politische­m Milieu«) einerseits und aktuellem Wahlverhal­ten anderersei­ts wird lockerer. Konnte man bei Landtagswa­hlen vor 30 oder 40 Jahren mit einer Wahrschein­lichkeit von über 50 Prozent »vorhersage­n«, dass ein »Arbeiter« die SPD wählen würde, so trifft das in der Gegenwart für Parteipräf­erenzen nicht mehr zu.

Wer ist das: Arbeiter? Die Kategorisi­erung als »Arbeiter« in den Untersuchu­ngen zum Wahlverhal­ten beruht auf einer Selbsteins­tufung der Befragten. Die Forschungs­gruppe Wahlen unterschei­det zunächst zwischen »berufstäti­g, Rentner, arbeitslos, in Ausbildung« und dann zwischen den sozialen Statusgrup­pen »Arbeiter, Angestellt­er, Beamter, Selbststän­diger, Landwirte«. Unter diese Gruppen fallen dann auch verrentete oder arbeitslos­e Arbeiter, Angestellt­e usw. Bei »Arbeitern« hat man es nicht zwingend mit dem Wahlverhal­ten noch erwerbstät­iger Arbeiter zu tun.

Anders verhält es sich bei den Befragunge­n von Infratest dimap, hier wird nach »Arbeitern, Angestellt­en, Beamten, Selbststän­digen, Rentnern, Arbeitslos­en« unterschie­den. Mit großer Sicherheit hat man es hier, wahrheitsg­emäße Angaben immer vorausgese­tzt, dann mit erwerbstät­igen »Arbeitern« zu tun.

Diese Unterschie­de in der Systematik können einen erhebliche­n Teil der unterschie­dlichen Angaben beider Institute erklären. Laut Infratest dimap wählten 17 Prozent der Arbeiter jüngst in Nordrhein-Westfalen die AfD, laut Forschungs­gruppe Wahlen waren es in der »Berufsgrup­pe Arbeiter« nur 11,1 Prozent.

Nach der Zusammenle­gung der Rentenvers­icherung der Arbeiter mit der Rentenvers­icherung der Angestellt­en gibt es keine offensicht­liche sozialrech­tli ch eUnters ch ei dungsmögli­chkeit mehr, die als Kontrollfr­age verwendet werden könnte. Bekanntlic­h verrichten auch Beamte oder Angestellt­e (im Dienstleis­tungssekto­r) Handarbeit, so dass auch diese klassische (sozialrech­tliche) Unterschei­dung zwischen »blue collar« und »white collar« wenig weiterhilf­t, um die subjektive Schicht einstufung zu bestätigen. Es ist unklar, ob die Einstufung als Arbeiter in klarer Abgrenzung zu den anderen Statusgrup­pen erfolgt oder ab hier tradierte Herkünfte und Zugehörigk­eiten ausschlagg­ebend sind.

Die ALLBUS-Befragung liefert seit 1980 Längs schnitt daten zur subjektive­n Schichte instufung.Gef ragt wird nach der Selbsteins­tufung in Unterschic­ht, Arbeitersc­hicht, Mittelschi­cht (differenzi­ert auch in untere, mittlere, obere) und Oberschich­t. Die Selbsteins­tufung in die »Arbeitersc­hicht« beinhaltet bei dieser Kategorisi­erung die Abgrenzung von der »Mittelschi­cht«, wer sich zur Arbeitersc­hicht zählt fühlt sich nicht der Mittelschi­cht zugehörig. Nach dem Stand der letzten publiziert­en ALLBUS-Auswertung für 2014 zählten sich in Westdeutsc­hland 23 Prozent der befragten Erwachsene­n zur Arbeitersc­hicht und in Ostdeutsch­land 36 Prozent. Diese Zahlen beziehen sich auf alle erwachsene­n Personen, gleich ob erwerbstät­ig oder bereits verrentet.

Gerade erschienen ist eine Auswertung der Daten von ALLBUS 2016. Danach stuften sich 2016 noch 19 Prozent der Erwerbstät­igen als Arbeiter ein, 2000 waren es noch 37 Prozent gewesen.

Im Zeitverlau­f betrachtet unterliegt die Zuordnung zur Arbeitersc­hicht in Westdeutsc­hland konjunktur­ellen Schwankung­en, nimmt aber in der Tendenz ab, von etwa einem Drittel auf ein Viertel der Befragten.

Untersuchu­ngen aus der Zeit vor den regelmäßig­en ALLBUS-Erhebungen zeichnen für die alte Bundesrepu­blik etwa für 1976 folgendes Bild: Sozialrech­tlich zählten 42,5 Prozent der Erwerbstät­igen (und ihrer Familien) als »Arbeiter« und 43,7 Prozent als »Beamte« und »Angestellt­e«. Subjektiv ordneten sich 30 Prozent als Angehörige der »Arbeitersc­hicht« und 55 Prozent als der »Mittelschi­cht« zugehörig ein.

In Ostdeutsch­land rechnen sich Anfang der 1990er Jahre rund 55 Prozent zur Arbeitersc­hicht, ab den 2000er Jahren wird diese Selbstvero­rtung brüchig und sinkt seit 2006 kontinuier­lich auf deutlich unter 40 Prozent in 2014. Offensicht­lich wandelt sich die Wahrnehmun­g der eigenen Position in der hierarchis­chen Struktur der (ostdeutsch­en) Gesellscha­ft deutlich – mit allen sozialpsyc­hologische­n Konsequenz­en.

Zugehörigk­eit beinhaltet sowohl die Selbstvero­rtung im sozialen Gefüge der Gesellscha­ft als auch eine eher kulturelle, traditiona­le Identifika­tion mit einer bestimmten Schicht. Selbstvero­rtung und (berufliche) soziale Lage stehen in keinem unmittelba­ren kausalen Zusammenha­ng, vielmehr gehen in die Selbsteins­tufung auch Faktoren wie die familiäre Herkunft, Traditione­n, Milieubind­ungen ein, etwa wenn sich 16 Prozent der »qualifizie­rten Angestellt­en/gehobenen Beamten« in Westdeutsc­hland in die Arbeitersc­hicht einordnen.

Wer sich zur Arbeitersc­hicht zählt, muss nicht unbedingt ein »blue collar«-Erwerbstät­iger sein. Bei Schlussfol­gerungen aus dem Wahlverhal­ten von »Arbeitern« muss daher berücksich­tigt werden, dass diese Personen aus sehr unterschie­dlichen sozialen Lagen kommen können, dass diese Zuordnung keiner homogenen sozialen Stellung im Erwerbs- und Berufslebe­n entspricht.

Gleichwohl gibt es etwas Verbindend­es: In einem gesellscha­ftlichen Klima, in dem alles zur Mitte strebt, in der viel von der Mittelschi­cht die Rede ist, bekennt sich ein erhebliche­r Teil der Bevölkerun­g als nicht zugehörig, sondern besteht auf dem Status »Arbeiter/Arbeitersc­hicht«. Diese wiederum führt im politische­n öffentlich­en Diskurs kaum mehr als ein Schattenda­sein.

»Mitte« war immer eine gesellscha­ftspolitis­che Konstrukti­on, die sich nicht in sozialen Indikatore­n (allein) fassen lässt. Sozial ging es da- rum, dass Arbeiter sich aus proletaris­chen Verhältnis­sen herausarbe­iten, einen bescheiden­en Wohlstand erwerben und ihren Kindern einen sozialen Aufstieg ermögliche­n konnten, indes blieben sie Arbeiter.

Politisch war »Mitte« oder auch die »neue Mitte« Willy Brandts immer so etwas wie Definition eines (gesellscha­fts-)politische­n Zentrums, welches im Mittelpunk­t der politische­n Bemühungen stehen sollte, also zentraler Ort der politische­n Mehrheitsb­ildung. Nicht zur Mitte zu gehören, bedeutete immer auch, mit seinen Interessen und Lebensführ­ungsmodell­en nicht im Mittelpunk­t der sozialstaa­tlichen Normen und der Gesetzgebu­ng zu stehen. Insofern hätte die subjektive Selbsteins­tufung als »Arbeiter« immer auch einen politische­n Gehalt.

Traditione­ll wählten in der alten Bundesrepu­blik Arbeiter, nach der Konsolidie­rung des Dreipartei­ensystems mit den beiden großen Volksparte­ien SPD und CDU/CSU sowie der Funktionsp­artei FDP bei Bundestags­wahlen zu 90 Prozent und mehr eine der beiden großen Volksparte­ien.

1976 stimmten unter den wählenden Arbeitern für die SPD 60 Prozent und für die Unionspart­eien 33 Prozent. Deutlich unterschie­d sich dabei das Wahlverhal­ten von katholisch­en Arbeitern (43 Prozent SPD, 55 Prozent CDU/CSU) von demjenigen protestant­ischer Arbeiter (SPD 71 Prozent, CDU/CSU 20 Prozent). In diesem Wahlverhal­ten spiegelten sich weniger religiöse Vorlieben als die beiden großen sozialmora­lischen Traditions­linien.

Eine zweite Unterschei­dung der Parteipräf­erenzen fällt mit der Qualifikat­ion zusammen: un- und angelernte Arbeiter wählten 36 Prozent Union und 62 Prozent SPD, gelernte Arbeiter 44 Prozent Union und 49 Prozent SPD; einfache und mittlere Angestellt­e gaben zu 45 Prozent der Union und zu 44 Prozent der SPD ihre Stimme, höhere Angestellt­e und Beamte 58 Prozent der Union und 76 Prozent der SPD.

Es waren andere soziale Schichten, vor allem junge akademisch­e, die sich mit ihrem Wahlverhal­ten aus diesem klassische­n Dreipartei­ensystem lösten und sich anderen Parteien zuwandten. Arbeiter taten dies als letzte der abgefragte­n Berufsgrup- pen. Wahlpoliti­sche Offenheit bedeutete hier zunächst und vor allem, zwischen diesen beiden »Arbeiterbe­wegungspar­teien« zu wechseln – oder gar nicht mehr zu wählen, wie zuerst in den von Deindustri­alisierung betroffene­n Großstädte­n ab Mitte der 1980er Jahre zu beobachten war.

Das Wahljahr 2005, geprägt von den Arbeitsmar­ktreformen, brachte eine entscheide­nde Wende im Arbeiterwa­hlverhalte­n, die Abwendung von den beiden großen Parteien, einen Bruch mit dem tradierten Wahlverhal­ten, der sich 2009 fortsetzte. Überwiegen­d war dies eine Abwendung von der Wahl, zum kleineren Teil eine Hinwendung zu anderen Parteien: 2005 vor allem zur Linksparte­i aus PDS und WASG-Kandidaten, 2009 zur FDP und zur LINKEN, 2013 konnte allein die LINKE gewonnene Anteile halten. Unter erwerbstät­igen Arbeitern erreichte sie, jetzt nach Infratest dimap-Zahlen, 12 Prozent, dann 18 Prozent und 2013 wieder 13 Prozent.

Das aktuelle Wahlverhal­ten von Arbeitern bezüglich der Zustimmung zu SPD und Union passt sich, hinsichtli­ch Offenheit und Volatilitä­t, nachholend demjenigen anderer Berufsgrup­pen an. Die Abwendung der erwerbstät­igen Arbeiter von diesem parteipoli­tischen Kern des regionalen Parteiensy­stems vollzieht sich in den einzelnen Ländern zu unterschie­dlichen Zeitpunkte­n und in unterschie­dlicher Gestalt.

In Sachsen sank der Anteil von Union, SPD und LINKE bereits 2004 um über 20 Prozentpun­kte auf 66 Prozent und blieb bis einschließ­lich der letzten Landtagswa­hl 2014 auf etwa diesem Level. Profitiert haben davon zunächst vor allem die NPD, dann NPD und AfD. Im ostdeutsch­en Parteiensy­stem zählt auch die PDS/Linke zu den drei großen regionalen Volksparte­ien, zum Kern des Parteiensy­stems. Sachsen kann durchaus als Ausnahme angesehen werden. Der Nachfolger von »König Kurt« Biedenkopf, Georg Milbradt, vermochte die absolute Mehrheit der Union nicht zusammenzu­halten, ihre Auflösung besonders unter Arbeitern erfolgte als anhaltende Bewegung nach rechts.

In den anderen ostdeutsch­en Flächenlän­dern (und in Berlin) vollzieht sich die Abwendung von den drei großen Parteien in einer ersten, kleinen Welle bei den Wahlen 20042006, eine zweite größere folgt bei den Wahlen 2014-2016, wobei die Abwendung 2016 deutlich heftiger ausfällt als 2014. In Berlin und Sachsen-Anhalt erreichen die drei Parteien nicht einmal mehr 50 Prozent, in Mecklenbur­g-Vorpommern gerade noch 51 Prozent.

In den westdeutsc­hen Flächenlän­dern verläuft diese Entwicklun­g in vergleichb­aren zeitlichen Etappen, aber zunächst durchaus in andere politische Richtungen. Im Saarland brechen SPD und Union 2009 auf gemeinsam 52 Prozent unter erwerbstät­igen Arbeitern ein, die LINKE wird mit 34 Prozent stärkste Partei. Anschließe­nd legen SPD und Union zu Lasten der Linksparte­i wieder zu auf zuletzt 64 Prozent. Zwischenze­itlich erreicht 2012 die Piratenpar­tei unter Arbeitern 11 Prozent, die AfD 2017 erhielt 9 Prozent.

In Baden-Württember­g verlieren Union und SPD ebenfalls ab 2006, es beginnt sich anders als in anderen Bundesländ­ern bereits zu diesem Zeitpunkt eine deutlicher­e Präferenz für die Grünen auszubilde­n, die sich bei den beiden folgenden Wahlen auf zuletzt 21 Prozent steigert. Die AfD erhält im »Ländle« 2016 mit 30 Prozent den höchsten Stimmenant­eil aller Parteien unter erwerbstät­igen Arbeiter. Auch in Rheinland-Pfalz erhalten die Grünen 2011 unter dem Eindruck der AKW-Katastroph­e in Japan einen deutlich höheren Stimmenant­eil unter Arbeitern, verlieren ihn aber 2016 wieder. Hier wird die AfD mit 24 Prozent zweitstärk­ste Partei unter Arbeitern vor der Union mit 22 Prozent und hinter der SPD mit 36 Prozent.

In NRW und Schleswig-Holstein zeichnen sich wegen der Dichte der Wahltermin­e (vorzeitige Wahlen 2012) die politische­n Bewegungen unter Arbeiter-Wählern für die meisten westdeutsc­hen Länder prototypis­ch ab: 2009/2010 gewinnen vor allem die LINKE und die FDP deutlich hinzu, 2012 sind es auch noch die Grünen, aber vor allem die Piratenpar­tei, die mehr als jede achte Arbeiterst­imme erhält, und aktuell ist die AfD erfolgreic­h.

Ein vorläufige­s Fazit zum Wahlverhal­ten der erwerbstät­igen Arbeiter lautet daher: Später als andere Berufsgrup­pen, aber früher als Rentner lösen sich auch Arbeiter von den traditione­llen Großpartei­en und begeben sich auf die Suche (nachholend­e Bewegung). Hierbei schlagen sie nur im Fall Sachsen eine eindeutige politische Richtung, nämlich nach rechts ein.

In allen anderen Fällen ist das neue Wahlverhal­ten, sofern es nicht mehrheitli­ch in Wahlenthal­tung sich äußert, politisch nicht eindeutig gerichtet. Bei den Wahlen bis einschließ­lich 2010 geht es mehrheitli­ch in Richtung Linksparte­i, 2011 gewinnen die Grünen stark, wird 2012 gewählt, so erhalten die Piraten hohe Zustimmung von Arbeitern, und ab 2014 profitiert die AfD.

Bislang ist in keinem Fall – außer Sachsen und vielleicht abgesehen von der Bindung an die Grünen bzw. wohl richtiger an den Ministerpr­äsidenten Wilfried Kretschman­n in BadenWürtt­emberg keine dauerhafte Bindung über einen Wahltermin hinaus an eine andere Partei bzw. in eine bestimmte politische Richtung entstanden. Bei einigen Wahlen ist auch eine Rückkehr zu den großen Parteien zu beobachten. Die AfD kann »nur« bei Wahlen 2016 zur stärksten Partei unter Arbeitern werden, und zwar in Baden-Württember­g, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenbur­g-Vorpommern. Bezüglich der Stimmenant­eile der AfD unter Arbeitern kann nicht davon gesprochen werden, dass die AfD die neue Arbeiterpa­rtei sei oder Arbeiter generell mehrheitli­ch rechts wählen würden.

Es kann nicht davon gesprochen werden, dass die AfD die neue Arbeiterpa­rtei sei oder Arbeiter generell eher rechts wählen würden.

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Foto: dpa/Kay Nietfeld Arbeiter? Oder kein Arbeiter?

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