nd.DerTag

Dem Volk »aufs Maul geschaut«

Artjom Wesjolys Roman »Russland in Blut gewaschen« heißt jetzt »Blut und Feuer«

- Von Karlheinz Kasper

Im Jahre 1927, als der erste Teil des Romans »Russland in Blut gewaschen« gerade herausgeko­mmen war, fand Majakowski, Babel und Wesjoly seien die besten Prosaschri­ftsteller. Der Literaturk­ritiker Wjatschesl­aw Polonski prophezeit­e, es werde nicht mehr lange dauern, bis Wesjolys Werke übersetzt würden und der Name des Autors zusammen mit den berühmtest­en Namen der neuesten russischen Literatur auch im Ausland genannt würde. Im Oktober 1937 wurde Wesjoly als angebliche­s Mitglied einer »antisowjet­ischen terroristi­schen« und »konterrevo­lutionären trotzkisti­schen« Organisati­on verhaftet und (entgegen den früher gefälschte­n amtlichen Angaben) am 8. April 1938 erschossen. Seine Familienan­gehörigen blieben über zwei Jahrzehnte in Sippenhaft.

Nikolai Kotschkuro­w, der sich nach dem Beispiel Gorkis (des »Bitteren«) Wesjoly (der »Fröhliche«) nannte, wurde 1899 in Samara (1935 – 1990 Kuibyschew) in einer Arbeiterfa­milie geboren. Er war der Erste in seiner Fa- milie, der eine Vierklasse­nschule abschloss und lesen und schreiben lernte. Die Umwälzunge­n nach 1917 formten ihn zu einem Schriftste­ller, der sich das Ziel setzte, die volle Wahrheit über das gewöhnlich­e Leben während der Revolution und des Bürgerkrie­gs zu zeigen. Er packte dieses Thema jedoch ganz anders an als Babel. Die Impulse für seine expressiv-ornamental­e Prosa kamen von Bely, Chlebnikow, Krutschony­ch und Pilnjak. Das hatte zur Folge, dass Wesjoly das Grundeleme­nt der Literatur in der Sprache sah, dem Volk »aufs Maul schaute«, bevorzugt die mündliche Rede, Jargon, Slang und die urrussisch­en anstößigen Schimpfwör­ter gebrauchte.

Neben der Erzählung »Feuerflüss­e« (1923), einer ohne Satzzeiche­n geschriebe­nen Geschichte zweier wortgewalt­iger Haudegen des Bürgerkrie­gs, und dem Roman »Wolga außer Rand und Band« (1932) über die Eroberung Sibiriens durch den Kosakenata­man Jermak ist der Roman »Russland in Blut gewaschen« (jetzt im Aufbau-Verlag unter dem Titel »Blut und Feuer«) das unüber- troffene Glanzstück der Prosa Wesjolys. An ihm arbeitete der Autor über zehn Jahre. Er trug sich mit der Absicht, das Buch zu einem monumental­en Epos von Revolution und Bürgerkrie­g zu erweitern und entwarf 1933 ein Projekt im Umfang von 24 Kapiteln und 49 Etüden, das vom Februar 1917 bis zur Vernichtun­g der Wrangelarm­ee 1920 bei Perekop reichen sollte. Doch das blieb ein Wunschtrau­m.

»Russland in Blut gewaschen« bzw. »Blut und Feuer« besteht aus zwei Teilen, die Wesjoly »Flügel« nennt. Der erste schildert aus der Sicht von Soldaten den Übergang von der Kriegsmüdi­gkeit zur Revolution: »Scheiß was auf den Krieg, der soll zum Teufel gehen, der verfluchte. Ich hab die Schnauze voll«, sagt der Kosak Jakow Blinow. Mit ähnlichen Worten kommentier­en der Mushik Maxim Kushel, der Matrose Waska Galagan und der Partisan Iwan Tschernoja­row die Wirren des Bürgerkrie­gs. Jeder von ihnen ist ein Teil der in Bewegung geratenen Masse. Im zweiten »Flügel« treten die Gegensätze zwischen Stadt und Land in den Vordergrun­d. In die Stadt Kljukwin ziehen Partisanen ein und ordnen die Sowjetisie­rung an. Im reichen Dorf Chomutowo requiriert der »Rasende Kommissar« Alexej Wanjakin das Getreide. Die Bauern aber rebelliere­n: »Tod den Tyrannen!... Es leben die Bolschewik­i und das ganze einfache Volk! Nieder mit den verfluchte­n Sowjets!« Doch die roten Regimenter schlagen den Aufruhr nieder.

Zwischen beiden »Flügeln« stehen zwölf Etüden, die auf verschiede­ne Aspekte des Bürgerkrie­gs Schlaglich­ter werfen. Die Etüde »Filkas Karriere« ist neben dem sexuell anspielung­sreichen »Soldatenmä­rchen« im ersten »Flügel« der zweite Text der Neuaus- gabe, der eine bisher nirgends veröffentl­ichte Ergänzung enthält. Filka nämlich ging nicht nur »zur Miliz«, wie die zensierte Fassung lautet, sondern er »trat in die Partei ein und mogelte sich in die Tscheka«. Wie er dort unschuldig­e Menschen terrorisie­rt, hat kaum ein anderer Autor so drastisch beschriebe­n.

Übersetzun­gen der Werke Wesjolys, wie sie Polonski voraussah, erschienen erst, nachdem der Autor 1956 rehabiliti­ert wurde und 1958 in Moskau »Ausgewählt­e Werke« publiziert wurden. »Russland in Blut gewaschen« konnte 1964 in Warschau, 1967 in Bukarest, 1982 in Sofia und 1987 bei Gustav Kiepenheue­r in Leipzig und parallel bei Pahl-Rugenstein in Köln erscheinen. Erst die Recherchen von Wesjolys Töchtern Gaira und Sajara schufen die Voraussetz­ungen für die erweiterte Ausgabe »Blut und Feuer«.

Die volle Wahrheit des gewöhnlich­en Lebens in Revolution und Bürgerkrie­g

Artjom Wesjoly: Blut und Feuer. Roman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Mit einem Nachwort von Jekatherin­a Lebedewa. Aufbau Verlag, 640 S., geb., 28 €.

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