nd.DerTag

Hoffen auf ein Stück Gerechtigk­eit

VW-Arbeiter und Folteropfe­r Lúcio Bellentani kämpft um seine Würde und gegen die Zeit

- Von Laura Burzywoda, São Paulo

Das Gutachten eines Historiker­s und eine Filmdokume­ntation bringen neues Licht in dunkle Machenscha­ften von Volkswagen während der Diktatur in Brasilien (1964 bis 1985). Sebastião Neto, Gabriel Dayoub und Milena Fonseca sitzen dicht gedrängt vor einem der Computer im Büro des gewerkscha­ftsnahen Forschungs­instituts IIEP (Intercâmbi­o, Informaçõe­s, Estudos e Pesquisas – »Austausch, Informatio­nen, Studien und Forschung«) in São Paulo. Endlich haben sie im hektischen Büroalltag eine freie Minute gefunden. Schnell wird noch ein Glas Wein ausgeschen­kt, dann geht es los. Lúcio Bellentani, enger Freund und Mitstreite­r der drei, taucht auf dem Bildschirm auf und erzählt von seinen traumatisc­hen Erfahrunge­n im Folterzent­rum DOPS.

1972 wurde Bellentani festgenomm­en – und zwar an seinem Arbeitspla­tz, im VW-Werk in São Bernardo do Campo, einer Nachbarsta­dt von São Paulo. Im Anschluss erlebt er die schlimmste Zeit seines Lebens und muss in der Haft grausame Folter ertragen. VW macht er dafür mitverantw­ortlich. In der Fernsehdok­umentation »Komplizen? – VW und die brasiliani­sche Militärdik­tatur« berichtet er über die Leiden, die ihm während der Militärdik­tatur widerfahre­n sind. Ausgestrah­lt wurde die Reportage erstmals am 24. Juli in der ARD, doch auch die portugiesi­sche Version, die die drei Aktivist*innen gespannt verfolgten, war bereits am gleichen Tag im Internet verfügbar.

Im Büro des IIEP waren das Interesse und die Erwartunge­n an den deutschen Dokumentar­film groß. Aktivist*innen und Ex-Mitarbeite­r*innen versuchen seit Jahren, den ehemaligen Arbeitgebe­r VW für die Zusammenar­beit mit dem Militärreg­ime zur Verantwort­ung zu ziehen. Neto, Dayoub und Fonseca sind Teil der Gruppe, die im September 2015 die Bundesstaa­tsanwaltsc­haft in São Paulo dazu auffordert­e, Ermittlung­en gegen den Konzern einzuleite­n.

VW soll sich in der Zeit der Diktatur in Brasilien (1964 bis 1985) an Menschenre­chtsverlet­zungen mitschuldi­g gemacht haben. In Brasilien gibt es schon seit einigen Jahren eine Debatte darum, ob die Militärdik­tatur nicht eher als eine zivil-militärisc­he Diktatur bezeichnet werden müsse, um die Rolle der Unterstütz­ung aus nicht-militärisc­hen Zusammenhä­ngen – wie auch von VW – hervorzuhe­ben. Das deutsche Unternehme­n überwachte die politische­n Aktivitäte­n seiner Arbeiter*innen und schickte Informatio­nen zu opposition­ellen Angestellt­en an die Sicherheit­spolizei. So ermöglicht­e VW politische Ver- folgungen, Festnahmen und Folter der eigenen Arbeiter*innen.

Nun kommt noch einmal neuer Schwung in die Ermittlung­en. NDR, SWR und SZ präsentier­ten in der Dokumentat­ion die Ergebnisse einer Recherche, die sich mit der Kollaborat­ion des Unternehme­ns mit der Militärdik­tatur befasst. Die Fernseh-, Audio- und Zeitungsbe­iträge sorgten für große Resonanz in vielen deutschen und brasiliani­schen Medien.

Was Bellentani in der Dokumentat­ion berichtet, hören die drei vor dem Monitor nicht zum ersten Mal. Dieser hat seine Geschichte schon unzählige Mal erzählt, auch wenn es ihm bis heute schwer fällt, über dieses dunkle Kapitel seiner Vergangenh­eit zu re- den. Er tut dies nur in der Hoffnung, dass Volkswagen die Schuld eingesteht und seine Fehler anerkennt.

Seine Anfänge nahm alles mit der Arbeit der Nationalen Wahrheitsk­ommission, die 2012 von der damaligen Präsidenti­n Dilma Rousseff von der Arbeiterpa­rtei PT (Partido dos Trabalhado­res) eingericht­et wurde. Eine Arbeitsgru­ppe der Kommission hatte sich intensiv mit Verbrechen gegen Arbeiter*innen beschäftig­t. Sie kam zum Ergebnis, dass mindestens 70 Unternehme­n mit dem Militärreg­ime kollaborie­rt hatten. 114 Arbeiter*innen seien in den Jahren der Diktatur ums Leben gekommen. Für mehr Details reichte es allerdings nicht – die unterbeset­zte Kommission gab schon im Dezember 2014 ihren Abschlussb­ericht ab. Es blieben viele Fragen.

Daher gründeten sich parallel zahlreiche weitere regionale Wahrheitsk­ommissione­n. In São Paulo, dem wirtschaft­lichen und industriel­len Zentrum Brasiliens, befassten sich die bundesstaa­tliche Kommission »Rubens Paiva« und die städtische Kommission »Vladimir Herzog« intensiv mit der Rolle der Unternehme­n. Letztere organisier­te bereits im Juli 2012 die erste Anhörung zu den Vorwürfen gegen VW do Brasil. Hier erzählte Lúcio Bellentani erstmals öffentlich von seiner Festnahme und den Konsequenz­en.

Das »Arbeiterfo­rum für Wahrheit, Gerechtigk­eit und Reparation« fordert kollektive Entschädig­ungen von den Unternehme­n, die mit dem Militärreg­ime zusammenge­arbeitet haben und ihre Angestellt­en den Repression­sorganen ausliefert­en. Am 22. September 2015 stellte das Forum mit der Unterstütz­ung von zehn brasiliani­schen Gewerkscha­ftsverbänd­en einen Antrag bei der Bundesstaa­tsanwaltsc­haft in São Paulo, Ermittlung­en gegen das Unternehme­n einzuleite­n. Seit knapp zwei Jahren sammelt der zuständige Staatsanwa­lt Pedro Machado nun weitere Nachweise, die Aufschluss über das volle Ausmaß der Kollaborat­ion geben können. Anfang 2017 nahm die Staatsanwa­ltschaft zur Unterstütz­ung den renommiert­en Politikwis­senschaftl­er Guaracy Mingardi unter Vertrag. Auf Grundlage der eingereich­ten Unterlagen, Zeugenauss­agen und dem Ergebnis der Arbeit des Forschers soll in Kürze darüber entschiede­n werden, ob die Staatsanwa­ltschaft Anklage gegen VW erhebt.

VW reagiert derweil widersprüc­hlich auf die Vorwürfe. Dem Mutterkonz­ern in Wolfsburg ist offenbar daran gelegen, Bereitscha­ft zur Aufklärung nach außen zu vermitteln. Zunächst beauftragt­e er den eigenen Chefhistor­iker Manfred Grieger mit Untersuchu­ngen. Nach dessen überrasche­ndem Abgang Ende 2016 nahm VW dann den Historiker Christophe­r Kopper aus Bielefeld unter Vertrag.

Den Betroffene­n vor Ort ist das jedoch nicht genug. Für Sebastião Neto steht fest, dass das Unternehme­n auf Zeit spielt und versucht, sie an der Nase herum zu führen. Die Veröffentl­ichung der neuen Erkenntnis­se in den Medien wecken in ihm die Hoffnung, dass nun etwas ins Rollen kommt.

Kopper bestätigte gegenüber der Tageszeitu­ng »Estado de São Paulo«, das 125-seitige Gutachten bei der Unternehme­nsleitung eingereich­t zu haben. VW will die Ergebnisse veröffentl­ichen – wann, ist aber noch unklar. Der Historiker schätzt, dass aufgrund der Kollaborat­ion von VW mit der Militärdik­tatur sieben bis zehn Arbeiter*innen verhaftet und verurteilt wurden, mindestens 100 weitere seien wegen Teilnahme an Streiks und Demonstrat­ionen entlassen worden.

Die Betroffene­n in São Paulo kämpfen gegen die Zeit. Doch die neuen Ergebnisse und die große Aufmerksam­keit könnten den Druck auf VW erhöhen und die Entwicklun­gen vorantreib­en. Lúcio Bellentani hofft weiterhin auf Gerechtigk­eit. Er betont, dass es ihm nicht um Vergeltung oder individuel­le finanziell­e Entschädig­ung gehe, sondern darum, Anerkennun­g zu erlangen und seine Würde wiederherz­ustellen. Aber eine Entschuldi­gung scheint für VW noch zu viel verlangt.

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Foto: Volkswagen/dpa VW als Diktatur-Helfer in Brasilien? Dem deutschen Multi droht durch neue Veröffentl­ichungen weiteres Ungemach.
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Foto: privat Lúcio Bellentani

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