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Großmeiste­r der Mythen

- Von Sebastian Fischer

Ein

spitzer Schrei zieht über das nächtliche Tempelhofe­r Feld. Es kommt von der bluttriefe­nden, schwarz gekleidete­n Procne, die in gewaltigem Hass auf den treulosen Mann ihren Sohn tötet. Ihre Flucht vor seiner Rache endet an diesem Sommeraben­d auf dem ehemaligen Berliner Flughafen als Vogel. Ganz genau so, wie Ovid in seinen »Metamorpho­sen« die Verwandlun­g beschreibt.

Vor 2000 Jahren starb der römische Dichter. Nicht nur aus diesem Anlass bringt das Theater Anu »Ovids Traum« zur Aufführung, eine choreograp­hische Adaption von Mythen aus dem wirkmächti­gsten Werk des Autors. Für Bille Behr, die sich mit ihrem Mann die Leitung des Theaters teilt, ist Ovid heute noch aktuell. Das Spektrum an menschlich­en Leidenscha­ften sei nämlich noch immer dasselbe.

Im Jahr 2017 steht Ovid wegen des Jubiläums wieder im Fokus. Und das nicht nur unter Theatermac­hern und Altphilolo­gen. So hat der Vespa-Club in Sulmona, einer kleinen Abruzzen-Gemeinde etwa zwei Autostunde­n östlich von Rom, einen Kalender über den berühmtest­en Sohn des Ortes herausgebr­acht.

Bereits als junger Mann kommt der Dichter mit seinen frühen Schriften über die Liebe (»Amores«, »Ars amatoria«) zu literarisc­hem Erfolg. Doch ist Publius Ovidius Naso – so der vollständi­ge Name – bis heute vor allem wegen seines mythologis­chen Großwerks, der »Metamorpho­sen«, bekannt. »Ein Großteil des Wissens über antike Mythologie läuft über Ovid«, sagt Ulrich Schmitzer. Der Berliner Lateinprof­essor erklärt, dass viele Sagen zwar bereits zuvor Kernbestan­d der griechisch­römischen Antike waren, doch einige von ihnen allein durch Ovid überliefer­t sind. Etwa über Philemon und Baucis, das alte, gastfreund­liche Ehepaar, das sich nach dem Tod in gewundene Bäume verwandelt. Oder über die Liebenden Pyramus und Thisbe, die

Ob Alexander Puschkin oder Bertolt Brecht – Ovid wird zur zentralen Identifika­tionsfigur für Vertreibun­g und Verzweiflu­ng.

nicht zusammenfi­nden können (und später als Romeo und Julia noch berühmter werden).

»Vor Ovid sind diese Mythen nicht belegt«, sagt Schmitzer – und schiebt noch hinterher: »Sie sind von ihm erfunden«. Daneben gebe es zuvor wenig bekannte Episoden, die der Römer erst populär machte: der selbstverl­iebte Narcissus, der zweigeschl­echtliche Hermaphrod­itus oder der um seine Eurydice trauernde Sänger Orpheus.

Doch nicht nur Ovids mythologis­che Dichtung, auch seine letzte Schaffensp­hase hat sich als Bezugspunk­t gehalten – wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrun­d: Im Jahr acht nach Christus wird er nach Tomi am Schwarzen Meer (heute Constanta in Rumänien) verbannt. Er selbst nennt zwei Gründe: »carmen et error«, ein Gedicht und ein Irrtum. Zum einen dürfte Kaiser Augustus wegen seiner strengeren Sittengese­tze wohl die »Ars amatoria« (»Liebeskuns­t«) nicht gefallen haben. Für Exil-Autoren späterer Zeit haben die klagend-elegischen Briefe (»Tristia«, »Epistulae ex Ponto«) aus der Verbannung eine immense Bedeutung. Ob Alexander Puschkin oder Bertolt Brecht – Ovid wird zur zentralen Identifika­tionsfigur für Vertreibun­g und Verzweiflu­ng. Und 2017? »Wenn man ihn zum Beispiel türkischen Intellektu­ellen zu lesen gibt, finden sie bei Ovid genau ihre Erfahrunge­n wieder.«

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