Ein Flusensieb für den Lungwitzbach
Die »Jahrhundertflut« von 2002 beschäftigt Sachsen bis heute – 2,6 Milliarden wurden in Schutzmaßnahmen gesteckt
Vor 15 Jahren wurde Sachsen von einer verheerenden Flut heimgesucht. Seither wurden 2,6 Milliarden Euro in den Hochwasserschutz investiert. Teilweise geht man dabei neue, alte Wege. Seit dem Hochwasser von 2002 ist der Lungwitzbach länger geworden. Runde 120 Meter hat er gewonnen, die oberhalb des Dorfes Niederlungwitz in eleganten Bögen zwischen Weiden und Wiesen verlaufen. Die Schlinge wurde künstlich angelegt und ist für den Fluss, was das Flusensieb in einer Waschmaschine ist. Sie hält Dreck zurück: Steine und Erde, die der Bach auf seinem Weg aus dem hügeligen westsächsischen Ackerland aufgesammelt hat. Alle ein bis zwei Jahre wird das Sieb gereinigt; Bagger kratzen das Schwemmgut aus dem Flussbett.
Vor 15 Jahren gab es die sogenannte »Sedimentfalle« am Lungwitzbach noch nicht – mit bösen Folgen für die Niederlungwitzer. Als am 12. August 2002 über Sachsen Regengüsse in nie erlebter Menge niedergingen, schwoll der Bach rasant an, riss Teile seines Ufers ab und rauschte dann als reißender Strom durch den Ort. Als der Pegel wieder gesunken war, stand der Schlamm mehr als kniehoch zwischen den Häusern. Um ihn zu beseitigen, mussten die Bewohner tagelang schaufeln.
Die Naturgewalten suchten damals bei weitem nicht nur Niederlungwitz heim. Die Bilder, die von der »Jahrhundertflut« in Erinnerung sind, stammen aus Dresden, Grimma oder Weesenstein, einem kleinen Ort im Tal der Müglitz, in dem eine Familie auf der letzten stehen gebliebenen Wand ihres Hauses ausharrte, während unter ihnen das Wasser rauschte. In Dresden, wo die Elbe auf weit über neun Meter stieg, stand das Wasser in Semperoper und Zwinger. Grimma und andere pittoreske Städte entlang der Mulde verwandelte die Flutwelle in modrig riechende Müllhalden. 21 Menschen kamen durch das Hochwasser ums Leben; die Schäden wurden auf sagenhafte sechs Milliarden Euro beziffert.
Die Verheerungen zeigten, wie stark Fluten die Städte und Dörfer in einem Landstrich gefährden, in dem Menschen seit jeher vorwiegend in den Flussniederungen siedeln – und welche großen Lücken der Hochwasserschutz aufwies, der zuletzt ein halbes Jahrhundert zuvor, im Jahr 1954, großflächig auf die Probe gestellt worden war. Um eine Wiederholung der Katastrophe zu vermeiden, zog man im Freistaat Konsequenzen. Das Land erarbeitete 47 Hochwasserschutzkonzepte für alle Gewässer I. Ordnung; man erstellte detaillierte Gefahrenkarten, die heute für jeden im Internet abzurufen sind, und überlegte, wie gefährdete Stellen besser zu schützen seien. Insgesamt seien 1600 Maßnahmen geplant worden, »davon 360 prioritäre«, sagt Martin Socher, der für Hochwasserschutz zuständige Referatsleiter im Ministerium für Umwelt und Landwirtschaft.
15 Jahre später ist die Hälfte davon fertig. Dämme wurden erhöht und ertüchtigt, Flutschutzmauern in Ortslagen errichtet, Rückhaltebecken gebaut, Deiche verlegt, um Flüssen mehr Raum zu geben. Im Jahr 2015 wurde ein neues Warn- und Meldesystem in Betrieb genommen, das kleinräumigere Vorhersagen ermöglicht. Dank neuer Messstellen wurden zudem Vorwarnzeiten erhöht – Anlieger der Elbe wissen jetzt bereits 60 Stunden im Voraus, dass eine Flutwelle anrollt. In vier Lagern in Sachsen liegen elf Millionen Sandsäcke bereit. Insgesamt seien in den vorbeugenden Flutschutz 2,6 Milliarden Euro investiert worden, sagt Umweltminister Thomas Schmidt (CDU), weitere 630 Millionen seien bis 2023 eingeplant: »Und das ist nicht das Ende.«
Dass es sich nicht um überflüssigen Investitionen handelt, erfuhr man schneller, als es den Sachsen lieb war. Bereits 2006 gab es an der Elbe ein erneutes starkes Hochwasser. 2010 traf es Ostsachsen, wo vor allem die Neiße nach dem Bruch eines polnischen Staudamms extrem anstieg. Und dass sich ein »Jahrhunderthochwasser« in Zeiten von Klimawandel und zunehmenden Wetterextremen auch nach nur elf Jahren wiederholen kann, war im Juni 2013 zu erleben, als starker Regen erneut große Teile des Freistaats unter Wasser setzte.
Mancherorts machten sich da die Investitionen bereits bezahlt – so wie in Jerisau. Der kleine Ort war 2002 noch von der Zwickauer Mulde überflutet worden, deren Fluten in den seit Jahrhunderten zur Entwässerung dienenden »Herrschaftlichen Vorflutgraben« drückten. »Das Wasser stand bis zur Schwelle der Kirchentür«, sagt Stefan Jung. Dessen Familie wohnt seit drei Generationen im Dorf, aber »an so etwas konnte sich keiner erinnern«. Jungs nur wenige Schritte von der Kirche entferntes Haus versank einen halben Meter im Wasser: »Die Möbel waren Müll.« Im Gewerbegebiet und bei vielen ande- ren der 500 Jerisauer waren die Schäden um ein Vielfaches größer.
In den Jahren danach wurde für 3,2 Millionen Euro ein Schöpfwerk gebaut – ein Riegel aus Beton, der einerseits den Vorflutgraben gegen Hochwasser aus der Mulde sichert, dessen vier Pumpen aber gleichzeitig die dort gesammelten Niederschläge in den Fluss drücken können. 2007 war der Bau fertig, fünf Jahre später konnten sich die Bürger von der Funktionsfähigkeit überzeugen: Während die Mulde erneut beängstigend schwoll, »standen wir trockenen Fußes auf dem Deich«, sagt Jung: »Wir sind sehr dankbar.«
Das Schöpfwerk Jerisau ist ein imposantes Bauwerk – und Zeugnis einer Art Hochwasserschutz, wie sie in Sachsen lange Zeit als allein seligmachend galt: hoch, breit, aus viel Stein und Beton. Vielerorts wird noch immer so gebaut. Es gibt aber auch neue Ansätze – die eigentlich die al- ten sind. Ein Beispiel dafür ist der Lungwitzbach mit seiner Sedimentfalle. Sie ist einer Flussschlinge nachempfunden, wie sie natürlich-mäandernde Flüsse in großer Zahl aufweisen. Damit ein neues Hochwasser nicht wieder große Uferabschnitte mitreißt, werden diese Bereiche mit Buhnen aus Feldsteinen befestigt oder mit Bündeln aus Weidenästen, die von den Bäumen am Fluss geschnitten werden. Es sind Beispiele für einen Ansatz namens »Ingenieurbiologie«, der Hochwasserschutz auf natürlichere Weise gewährleisten will. Die Methoden dazu »holen wir uns aus Lehrbüchern, die teilweise über 100 Jahre alt sind«, sagt Ulrich Nürnberger, Bereichsleiter Fließgewässer in der für die Zwickauer Mulde zuständigen Flussmeisterei.
Naturschützer sind von derlei Ansätzen begeistert, Anwohner nicht immer. »Wenn jemand gerade mit Haus und Hof abgesoffen ist, will er eine Mauer aus Stein und keine Bündel aus Weide«, sagt Nürnberger. Seien diese aber erst einmal ein paar Jahre angewachsen, »sind sie fester als Beton«, fügt er hinzu; zugleich seien sie weit preiswerter und verbesserten die ökologische Qualität des Gewässers. Am Lungwitzbach kann man sich auf einem 1,5 Kilometer langen Naturpfad darüber informieren – wenn nicht gerade wieder ein Hochwasser durch das Flusensieb des Flusses strömt.
Anlieger der Elbe wissen jetzt bereits 60 Stunden im Voraus, dass eine Flutwelle anrollt. Und in vier Lagern in Sachsen liegen elf Millionen Sandsäcke bereit.