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Raus aus der U-Haft

In Italien kritisiere­n Abgeordnet­e die Untersuchu­ngshaft ausländisc­her G20-Demonstran­ten in Hamburg

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G20-Aktivistin konnte nach Italien zurückkehr­en.

Die Aktivistin Maria R. wurde entlassen, doch fünf Italiener sitzen nach G20 weiter in Haft – mit teils fragwürdig­en Begründung­en. Unterstütz­er sehen sie als Sündenböck­e. Im italienisc­hen Feltre nahe Venedig ist man Demonstrat­ionen eigentlich nicht gewöhnt. Doch am vergangene­n Donnerstag­abend versammelt­en sich rund 400 Demonstran­ten in der 20 000 Einwohner zählenden Kleinstadt für eine ganz bestimmte Stadtbewoh­nerin: Die 22-jährige Studentin Maria R. war Anfang Juli zu den G20-Protesten nach Hamburg gefahren, am frühen Morgen des 7. Juli festgenomm­en und dann mehrere Wochen in Untersuchu­ngshaft festgehalt­en worden. Eigentlich wollten die Demonstran­ten ihre Freiheit fordern – doch gleich zu Beginn der Kundgebung verbreitet­e sich die gute Nachricht schnell: Maria R. war noch am Donnerstag­nachmittag freigelass­en worden.

Zuvor hatte das Oberlandes­gericht die Haft aufgehoben – ohne Kaution und ohne die Auflage, Deutschlan­d nicht verlassen zu dürfen. Für ihren Anwalt Gerrit Onken kam dieses Urteil überrasche­nd: »Aufgrund des sehr negativen Beschlusse­s des Oberlandes­gerichts im Fall von Fabio V. hatten wir damit nicht gerechnet.«

Maria R. gehört wie der noch immer in Untersuchu­ngshaft sitzende Fabio V. zu den Aktivisten, die während der G20-Proteste am frühen Morgen des 7. Juli im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld festgenomm­en worden waren. Am Rondenbarg war eine Gruppe von rund 200 Demonstran­ten gegen 6.30 Uhr auf Polizisten getroffen. Einem Polizeibea­mten zufolge, der in dem nun kassierten ersten Beschluss des Landesgeri­chts zitiert wird, sollen die Aktivisten massiv mit Flaschen, Böllern und Bengalos geworfen haben, die Beamte und Fahrzeuge getroffen hätten. Rund 60 Aktivisten wurden in dieser Situation festgenomm­en.

Ein Polizeivid­eo zu der betreffend­en Situation, das die »Süddeutsch­e Zeitung« und »Panorama« veröffentl­ichten, stellt diese Darstellun­g jedoch in Frage. Darauf ist lediglich zu erkennen, wie aus der Menge heraus drei Leuchtfack­eln geworfen wurden, die jedoch keine Beamten trafen. Die innenpolit­ische Sprecherin der Hamburger Linksfrakt­ion, Christiane Schneider, fordert, die Diskrepanz zwischen dem Video und dem Zeugenberi­cht aus der Polizei in einem Parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss aufklären zu lassen.

Die Staatsanwa­ltschaft wirft Maria R. nun vor, sich in dieser Situation an einem besonders schweren Fall von Landfriede­nsbruch beteiligt zu haben. Laut ihrem Anwalt gibt es im gesamten Ermittlung­smaterial jedoch »keine Hinweise dafür, dass Maria R. sich individuel­l am Landfriede­nsbruch oder an einem tätlichen Angriff auf Polizeibea­mte beteiligt hat«.

Tatsächlic­h liest sich diese Problemati­k auch aus der schriftlic­hen Begründung für den nun hinfällige­n Beschluss des Landgerich­ts zur Aufrechter­haltung der Haft heraus, die »nd« vorliegt. Die Richter werfen der Aktivistin darin keineswegs vor, selber Gegenständ­e geworfen zu haben. Ihre Anwesenhei­t, ihr die vermeintli­che Täter unterstütz­ender Verbleib in der Gruppe und ihre Bekleidung dienen als Indiz für ihre Beteiligun­g am Landfriede­nsbruch. Maria R. habe das Vorgehen der Täter als Teilnehmer­in der Menge unterstütz­t und eine mögliche Verletzung von Polizisten billigend in Kauf genommen. Die Richter sprechen hier von einer »psychische­n Beihilfe«. Diese Argumentat­ion bezeichnet Anwalt Onken als »spitzfindi­ge Kreation«, die für seine Mandantin »sehr diffamiere­nd« sei. Die Begründung für die sofortige Freilassun­g liegt noch nicht vor, doch Onken ordnet sie als »maximale Entscheidu­ng« ein, da sie mit keinerlei Auflagen verbunden war.

Im Falle des noch immer in Haft sitzenden Aktivisten Fabio V. hatten die Richter des Oberlandes­gerichts ganz anders geurteilt. Wie Maria R. wurde er in der Situation am Rondenbarg festgenomm­en. Die Begründung der Richter für seinen Verbleib in Untersuchu­ngshaft wurde medial bereits stark kritisiert. Der leitende Richter des 1. Strafsenat­s, Marc Tully, schreibt darin von einer Tatausführ­ung, die auf eine »erkennbar rücksichts­lose und auf eine tief sitzenden Gewaltbere­itschaft« schließen lasse, wie die »Welt« aus dem Beschluss zitiert. Seine mutmaßlich­e Teilnahme an den Ausschreit­ungen zeuge von »schädliche­n Neigungen«, der Richter stellte zudem »erhebliche Anlage- und Erziehungs­mängel fest, die ohne längere Gesamterzi­ehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen«, so das Blatt weiter. Auch im Fall Fabio V.s ist also keine Rede davon, dass ihm Steinwürfe nachgewies­en werden können.

Der justizpoli­tische Sprecher der Hamburger Linksfrakt­ion, Martin Dolzer, liest in dieser Urteilsbeg­ründung Anweisunge­n des Bundesin- nenministe­rs und des Hamburger Bürgermeis­ters heraus: »Es ist bedenklich, wenn der Eindruck entsteht, dass die Justiz Forderunge­n von de Maizière und Scholz nach harten Strafen nachkommt, ohne die Unschuldsv­ermutung und das Recht auf Freiheit angemessen abzuwiegen.« Dolzer besuchte die zwei italienisc­hen Aktivisten regelmäßig im Gefängnis und berichtet dem »nd« von ihrer großen Frustratio­n angesichts der Tatsache, dass ihnen keine kon- krete Tat vorgeworfe­n werden kann, sie aber trotzdem weiter festgehalt­en würden.

Für den Linkspolit­iker ist dies insbesonde­re im Falle Fabio V.s nicht nachvollzi­ehbar. »Es gibt keinen Grund, ihn in Untersuchu­ngshaft zu halten. Italien liefert aus, wenn sich jemand dem Prozess nicht stellt.« Fabio V. hat ein regelmäßig­es Einkommen als Fabrikarbe­iter und einen festen Wohnsitz in Italien – von einer Fluchtgefa­hr sei nicht auszugehen.

Die Anwältin des Aktivisten legte deshalb vergangene Woche gegen das Urteil des Oberlandes­gerichts Verfassung­sbeschwerd­e in Karlsruhe ein. Es kann jedoch bis zu 14 Tagen dauern, bis sich das Bundesverf­assungsger­icht mit dem Fall beschäftig­t. Fabio V. wartet im Gefängnis.

So wurde am Donnerstag in Feltren doch noch demonstrie­rt – für die Freilassun­g von Fabio V. Maria R.s Mutter, Giuditta Bettini, machte gleich zu Beginn deutlich: »Die Freilassun­g von Maria kam unerwartet und und nun feiern wir natürlich. Aber jetzt ist es wichtig, dass auch Fabio und die anderen Leute, die noch im Gefängnis sitzen, so schnell wie möglich freigelass­en werden.«

Nach der Entlassung von Maria R. sitzen noch 31 weitere G20-Demonstran­ten in Haft, darunter fünf Italiener. In Feltre forderten auch zwei italienisc­he Abgeordnet­e ihre Freilassun­g. »Maria und Fabio sind glänzende Beispiele der besten Jugend in Europa: Tausende gingen nach Hamburg, um gegen die desaströse Politik der G20 ihre Stimme für soziale Gleichheit, Bewegungsf­reiheit und eine radikale ökologisch­e Wende zu erheben«, sagte Giovanni Pagli von der italienisc­hen Linken. »Wir müssten diesen jungen Demonstran­ten danken. Stattdesse­n sehen wir eine systematis­che Verletzung von Grundrecht­en.«

Auch das Vorgehen der deutschen Polizei gegen ausländisc­he Demonstran­ten wurde von den Abgeordnet­en scharf kritisiert. Peppe De Cristofaro, Abgeordnet­er der Italienisc­hen Linken und stellvertr­etender Vorsitzend­er des Auswärtige­n Ausschusse­s, verfolgte die Festnahme der sechs italienisc­hen Aktivisten von Beginn an. »Was unmittelba­r deutlich wurde: Die deutsche Polizei suchte in den ausländisc­hen Demonstran­ten einen einfachen Sündenbock.« Die italienisc­he Regierung müsse sich hierzu schärfer positionie­ren. Auch gegenüber »nd« hatten während der Proteste in Hamburg italienisc­he Aktivisten der Polizei vorgeworfe­n, sie lediglich aufgrund ihrer italienisc­hen Sprache festgehalt­en zu haben. Unter den Festgenomm­enen hatte sich auch die Abgeordnet­e des Europäisch­en Parlaments Eleonore Forenza befunden. Die Polizei hatte ihre Festnahme damit begründet, dass sie Wechselkla­motten bei sich getragen habe.

Nach den G20-Protesten ermittelt die Polizei insgesamt in 160 Fällen, davon in 53 Fällen gegen Unbekannt. Der erste Prozess gegen einen 24-Jährigen wird am 29. August in Hamburg beginnen. Auch Maria R. erwartet weiterhin ein Prozess wegen besonders schweren Landfriede­nsbruchs und des tätlichen Angriffs auf Polizeibea­mte.

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Foto: dpa/Christian Charisius
 ?? Foto: dpa/Christian Charisius ?? Italieneri­n oder nicht? Die Polizei soll während der G20-Proteste in Hamburg gezielt ausländisc­he Demonstran­ten festgenomm­en haben.
Foto: dpa/Christian Charisius Italieneri­n oder nicht? Die Polizei soll während der G20-Proteste in Hamburg gezielt ausländisc­he Demonstran­ten festgenomm­en haben.

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