Krieg und Frieden sind immer weniger unterscheidbar Zum Beispiel?
Der Historiker Thomas Hippler über die erste Bombe, Arbeiter als Angriffsziel und polizeiliche Luftschläge
In Ihrem neuen Buch über die »Globalgeschichte des Luftkrieges entwerfen Sie ein nicht gerade beruhigendes Bild für die kommenden Jahrzehnte. »Die Kriege der Zukunft werden lang oder gar endlos, dezentriert und ohne nationale Grundlage sein. Sie begreifen potenziell die gesamte Weltbevölkerung mit ein«, schreiben Sie dort. Was meinen Sie genau damit? Thomas Hippler: Eines der charakteristischen Kennzeichen der globalen Politik unserer Zeit ist, dass Krieg und Frieden immer weniger unterscheidbar werden. Die Militärdoktrinen, die seit den 1990er Jahren entwickelt wurden, sprechen diese Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden ziemlich offen aus. Damit wird es auch zunehmend schwieriger, zwischen militärischen und nichtmilitärischen Maßnahmen zu unterscheiden.
So gibt es etwa Angriffszenarien, in denen zunächst mittels Börsenspekulation eine Finanzkrise ausgelöst wird, um dann Computerviren gegen das zivile Stromnetz, die Medien, die Telekommunikation und die Leitung des Verkehrs einzuschleusen. Dies würde fast automatisch Panik und Aufruhr auslösen und eine politische und soziale Krise zur Folge haben. Die physische Gewalt wäre dann nur der zweite Schritt in diesem »entgrenzten Krieg«. Die beteiligten Kämpfer gehörten dann nicht mehr notwendigerweise Militärapparaten an, sondern dezentralisierten Gruppen mit flachen Hierarchien. Man setzt immer stärker auf Netzwerke, anstatt auf Gewaltmonopolisten mit pyramidenförmigen Hierarchien.
Inwiefern kommt dabei der Luftwaffe, um die es in ihrem Buch ja vordergründig geht, eine zentrale Bedeutung zu?
Eines der schlagendsten Beispiele für diese neue Art von Kriegsführung ist sicherlich der massive Einsatz von Drohnen, heutzutage vor allem in Ländern wie Pakistan und Jemen, also in Gebieten, die sich offiziell nicht im Krieg befinden. Ursprünglich wurden Drohnen für Aufklärungs- und Überwachungseinsätze entwickelt, und die Kameras, mit denen sie ausgestattet sind, erlauben, alle Bewegungen in einer Region aufzuzeich- nen. Was hat ein Verdächtiger getan, woher ist er gekommen und wohin gegangen?
Was hat sich verändert?
Jetzt werden Drohnen immer häufiger mit Bomben und Raketen ausgestattet, aber immer noch in erster Linie von Geheimdiensten operiert. Die permanente Überwachung ist heutzutage Teil von Kriegshandlungen, oder, anders ausgedrückt, Überwachung und physische Auslöschung sind zwei Pole desselben Kontinuums. Genau in diesem Sinne wird auch die nationale Grundlage des Krieges hinfällig: Bombardiert wird bis jetzt vor allem an der Peripherie des Weltsystems, aber permanent überwacht werden wir schon alle.
Eine Analogie zu den Ursprüngen der Luftschläge vor über hundert Jahren, als sie ja als Kolonialstrategie entwickelt worden waren? Genau. Die erste Bombe wurde am 1. November 1911 aus einem italienischen Flugzeug auf ein libysches Dorf geworfen — auf den Tag genau ein Jahrhundert vor dem Ende der NATOLuftschläge gegen Libyen im Jahre 2011. In der Zwischenkriegszeit wurde dann der Bombenkrieg von allen Kolonialmächten zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt, vor allem im heutigen Irak, wo die Briten das Konzept des »police bombing« entwickelten, aber ebenso in Afghanistan, Syrien, Nordafrika, den Philippinen, Nicaragua, usw.
Was bedeutet »police bombing«? Polizeibombardements bedeuteten, dass Dörfer von Aufständischen systematisch unter Beschuss genommen wurden, mit dem Ziel, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zu zerschlagen, um somit das Milieu »auszutrocknen«, in dem die Aufständischen ihnen Kampf führten.
Sie beziehen sich hier auf Hannah Arendts These, dass die Ursprünge totaler Herrschaft im Kolonialismus zu suchen seien. Gilt dies auch für die Totalisierung des Krieges, und welche Rolle nahmen dabei die Luftschläge ein?
Ganz klar, und das ist ein Punkt, der in den historischen Debatten völlig unbeachtet geblieben ist. Vor allem seit Jörg Friedrichs Buch »Der Brand« hat man viel darüber diskutiert, ob das alliierte Bombardement deutscher Städte gerechtfertigt war. Das gleiche gilt in noch stärkerem Maße für den Einsatz der Atombombe gegen Japan. Damit tat man so, als ob der Bombenkrieg gegen Zivilbevölkerungen eine Erfindung des Zweiten Weltkrieges gewesen sei. Aber es gab seit der Zwischenkriegszeit eben jene »koloniale Matrix« für den strategischen Bombenkrieg gegen Zivilbevölkerungen.
Er wurde also dort »erfunden«?
Das ist auch wenig erstaunlich, denn in den Kolonialkriegen ging es ja traditionell in den seltensten Fällen darum, eine gegnerische Armee zu besiegen. Viel häufiger war das Ziel, Zivilbevölkerungen zu terrorisieren. Und das lässt sich natürlich mit der Luftwaffe einfacher und billiger bewerkstelligen als mit Bodentruppen. Insofern ist die eigentlich interessante Frage nicht, ob das alliierte Bombardement deutscher Städte gerechtfertigt war, sondern die spannende Frage ist eher, wie es dazu kommen konnte, dass das, was Europäer schon immer in den Kolonien getan hatten, jetzt plötzlich auch in Europa möglich wurde.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer »Demokratisierung des Krieges«.
Das ist einer der beunruhigendsten Punkte. Wenn die Frage ist, wie es dazu kommen konnte, dass die gesamte Weltbevölkerung kolonialen Praktiken unterworfen wurde, dann liegt die Antwort ganz offen in den Militärstrategien. In beiden Fällen, erst in den Kolonien, dann auch in Europa, wird der Krieg zu einer Angelegenheit des ganzes Volkes und betrifft nicht mehr allein den Staat. Oder, an- ders ausgedrückt, der Krieg »demokratisiert« sich, und wenn alle Bürger auf die eine oder die andere Weise an ihm teilnehmen, dann wird es unsinnig, nur diejenigen ins Visier zu nehmen, die die Waffen handhaben, und diejenigen zu verschonen, die deren Einsatz durch ihre tägliche Arbeit erst ermöglichen. Der Heldentod, früher aristokratisches Privileg des Kriegers, erlebte seine »Demokratisierung« in dem Sinne, dass jetzt alle daran teilhaben können. Aber das ist leider noch nicht alles, denn die Militärstrategen gehen davon aus, dass die Bevölkerung nicht nur einen Anteil an den Kriegsanstrengungen hat, sondern ebenfalls eine Verantwortung für die Handlungen der Regierung. Insofern ist es nicht nur effizienter sondern ebenfalls »gerechter«, den kollektiven Souverän unmittelbar anzugreifen, anstatt nur die Soldaten als Organe der Exekutiven.
In einem der eindrücklichsten Sätze in dem Buch beschreiben Sie das folgendermaßen: »Das Nationale, das Soziale und das Demokratische bilden die Kehrseite der europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts. Das Bombardement ist die Hölle einer Welt, die ihr Paradies in der sozialen Sicherheit hat.«
Wenn im totalen Krieg die gesamte Bevölkerung zum Angriffsziel werden kann, dann bedeutet das nicht, dass es keine Unterschiede mehr gäbe. Die gibt es und in Europa trifft es zuerst die Arbeiter.
Warum?
Einerseits deswegen, weil Arbeiterwohngebiete dichter bebaut und mit weniger Brandschutz ausgestattet sind als bürgerliche Wohngebenden, und deswegen einfacher zu bombar- dieren sind. Aber vor allem geht man davon aus, dass die Arbeiter die Achillesferse moderner Gesellschaften sind und man sie durch Luftbombardements zur Revolte gegen die Regierung anstacheln kann. Aus diesem Grunde steht der Offensivstrategie immer auch eine Defensivstrategie zur Seite, in der es um die Integration in den Nationalstaat geht. Der Luftschutzbunker ist der handgreifliche Ort dafür, aber viel grundsätzlicher sind sozialstaatliche Maßnahmen, also die Übernahme von Verantwortung für das Leben und das Wohlergehen des ganzen Volkes seitens des Staates.
Kann man auch an die Luftbrücke vom Juni 1948 bis Mai 1949 zu Zeiten der Berlin-Blockade denken? Die »Rosinenbomber« sind das perfekte Symbol für die Symmetrie zwischen Leben und Tod, Sozialstaat und Luftbombardement. Die alliierten Piloten, bis 1945 des »Luftterrors« geziehen, werden drei Jahre später als Retter gefeiert: Durch Brandbomben töten oder durch Transport von Nahrungsmitteln und Heizmaterial am Leben erhalten, sind zwei Seiten einer Medaille.
Immer schon verbanden sich aber auch mit dem Einsatz der Luftwaffe Hoffnungen darauf, eine »Feuerwehr« zur Beendigung von Kriegen gefunden zu haben. War das immer nur Propaganda oder lag darin jemals auch eine reale Chance?
Das bringt uns zur ersten Frage zurück und dem, was man heutzutage unter »Krieg« und unter »Frieden« verstehen kann. Es ist in der Tat erstaunlich zu sehen, dass die Entstehung der Luftfahrt von einer Friedensutopie begleitet war. Der italienische General Giulio Douhet empfahl so nicht nur den Einsatz von Bomben und Giftgas gegen Zivilbevölkerungen, sondern ebenfalls die Einrichtung eines »internationalen Tribunals«, das den Krieg dadurch zu unterbinden in der Lage sein sollte, indem es seine Entscheidungen mittels einer Luftflotte hätte durchsetzen können sollen. Und diese Idee findet sich noch heute im Artikel 45 der Charta der UNO. Man könnte es auch so sagen: Luftschläge sind keine Kriege mehr, sondern Polizeioperationen. Dass man das aber Frieden nennen kann, wage ich zu bezweifeln.
Die permanente Überwachung ist Teil von Kriegshandlungen, oder, anders ausgedrückt, Überwachung und physische Auslöschung sind zwei Pole desselben Kontinuums. Genau in diesem Sinne wird auch die nationale Grundlage des Krieges hinfällig: Bombardiert wird bis jetzt vor allem an der Peripherie des Weltsystems, aber permanent überwacht werden wir schon alle.