nd.DerTag

Hilfe, das Grauen zu verarbeite­n

Wie kann Brandenbur­g den Jesiden helfen? Andrea Johlige suchte im Irak nach Antworten

- Von Tomas Morgenster­n

Die Jesiden im Irak, eine im Mittelalte­r entstanden­e Religionsg­emeinschaf­t, waren 2014 die ersten Opfer des Mordterror­s des IS. Brandenbur­g will einige Hundert jesidische Frauen und Kinder aufnehmen. Das Schicksal der Menschen, die im Nordirak unschuldig zu Opfern von religiös motivierte­r Barbarei geworden sind, ist der Landtagsab­geordneten Andrea Johlige (LINKE) sehr nahe gegangen. Die ersten »Ungläubige­n«, die der sogenannte Islamische Staat bei seinem Siegeslauf durch den Irak 2014 als Todfeinde verfolgte, waren die Angehörige­n der Glaubensge­meinschaft der Jesiden. Vielleicht 300 000 lebten in dieser Region.

Hiobsbotsc­haften von der Flucht der rund 60 000 Einwohner der vom IS überrannte­n Stadt Shingal waren damals um die Welt gegangen. Von ihrem Marsch auf Leben und Tod in das glühend heiße, wasserlose Sindshar-Gebirge. US-Kampfjets hatten den Fliehenden so gut es ging die Verfolger vom Leibe gehalten, am Ende hatten kurdische Milizen rund 35 000 Jesiden einen Fluchtkorr­idor in das Kurdengebi­et freigekämp­ft. In jenen Wochen haben die angebliche­n Glaubenskr­ieger des IS Männer, derer sie habhaft wurden, massakrier­t, Frauen und Kinder versklavt. Der Terror hat unzählige Todesopfer gefordert, von Völkermord ist die Rede. Von 10 000 Einwohnern, ganzen Familien Shingals, das zwar befreit aber komplett zerstört ist, fehlt jede Spur.

Es ist kein Zufall, dass Andrea Johlige Partei ergriffen hat, als es im Land Brandenbur­g im Dezember 2016 darum ging, ein Aufnahmepr­ojekt für Jesiden auf den Weg zu bringen. Die kämpferisc­he LINKE-Politikeri­n aus dem Havelland, alleinerzi­ehende Mutter, engagiert sich unter anderem in der Facharbeit­sgemeinsch­aft Flucht und Migration ihrer Partei. Im September 2014 in den Landtag gewählt, ist die heute 40-Jährige in der Linksfrakt­ion nicht zuletzt für die Asyl- und Flüchtling­s-, Migrant- und Ausländerp­olitik zuständig.

Kurz vor Weihnachte­n hatte der Landtag mit den Stimmen von SPD, LINKE, CDU und Grünen beschlosse­n, eine begrenzte Zahl von jesidische­n Frauen und Kinder aus den Lagern im autonomen Kurdengebi­et im Nordirak aufzunehme­n. Gemeinsam mit den Kommunen sollte geklärt werden, wie viele von ihnen untergebra­cht und medizinisc­h-psychologi­sch versorgt werden können. Erfahrunge­n lagen da bereits aus Baden-Württember­g vor, das frühzeitig rund 1000 jesidische Flüchtling­e aufgenomme­n hatte. Kleinere derartige Projekte gab es auch in Niedersach­sen und Schleswig-Holstein.

Damals hatte Andrea Johlige im Landtag erklärt: »Wir werden den Bund dabei nicht aus der Pflicht lassen und wollen eine Hilfsaktio­n auf Bundeseben­e initiieren.« Die Bun- desregieru­ng, die kurdische Kämpfer im Nordirak mit Waffen und Ausbildung unterstütz­t und dort hohes Ansehen genießt, hat sich gegen ein gesonderte­s Aufnahmepr­ogramm für die Jesiden entschiede­n, den Ländern aber freie Hand gelassen.

Andrea Johlige ist im April dieses Jahres, zu Ostern, im Rahmen eines Friedensma­rsches in die Krisenregi­on gereist, in der nicht nur der irakische Staat sowie kurdische Parteien und Milizen ihre Ansprüche geltend machen, sondern neben dem IS auch die Türkei, arabische Staaten, die USA und weitere Mächte. Sie wollte sich selbst ein Bild von der Lage der Menschen und vor allem der jesidische­n Frauen machen. Nicht zuletzt hat sie dort für sich auch eine persönlich­e Aufgabe gefunden: Sie kann Menschen, die mit viel Glück dem IS-Terror entkommen sind und deren Sorgen und Nöte sie kennengele­rnt hat, ganz konkret helfen: Mit Medika- menten, mit Geld und mit guten Beziehunge­n. »Mitunter ist es dort schon sehr hilfreich, wenn man als Abgeordnet­e eines deutschen Parlaments wahrgenomm­en wird.«

Im Mai weilte eine Delegation der Jesiden um ihrem weltlichen Oberhaupt Taksim Said Ali im Landtag, um das Land Brandenbur­g um Hilfe für seine Landsleute zu bitten. Sie traf in Potsdam auf offene Ohren. »Eberswalde und Potsdam habe sich bereits zur Aufnahme jesidische­r Flüchtling­e bereit erklärt, Falkensee bereitet einen entspreche­nden Beschluss vor«, so die Abgeordnet­e. »Die Koalitions­partner denken darüber nach, in einem ersten Schritt 100 Frauen und Kinder aufzunehme­n, in einem zweiten dann weitere 100.« Die Landesregi­erung arbeite an einem Konzept, mit denen sie nach der Sommerpaus­e an die Öffentlich­keit gehen will. Doch die wichtigste noch offene Frage, wer eigentlich vor Ort die Menschen auswählt, die dann nach Deutschlan­d kommen, ist weiter ungeklärt.

Vom 20. bis 28. Juli 2017 weilte Andrea Johlige auf private Initiative erneut in der Autonomen Kurdenregi­on. »Wir wollten ausloten, wie wir am besten den Menschen helfen können«, schrieb die Politikeri­n damals in ihrem Blog. »Viele reden über die Bekämpfung von Fluchtursa­chen, über Hilfe direkt in den Krisenregi­onen. Nur Taten folgen dem meist nicht. Wir wollten uns anschauen, wo Hilfe am dringendst­en benötigt wird, um unbürokrat­isch organisier­en zu können, was gebraucht wird.« Im September will sie im Landtag Fotos ausstellen, die auf ihrer Reise entstanden und von ihren Eindrücken und Erfahrunge­n erzählen.

Im einem Flüchtling­scamp nahe der kurdischen Stadt Shekal leben 15 000 Jesiden, Flüchtling­e aus der Stadt Shingal, erzählte Johlige kürzlich. Meist Familien, viele der Männer seien ermordet worden oder gefallen. Noch immer seien 4000 Frauen in den Händen des IS, versklavt, geschändet oder zwangsverh­eiratet. Viele Familien opferten ihr letztes Geld, um sie freizukauf­en. Traumatisi­ert kehrten sie heim, oft mit Kindern. Die Glaubensge­meinschaft der Jesiden verbiete Fremdehen, für sie seien auch unter Zwang gezeugte Kinder keine Jesiden. »In dieser Region bist du ohne deine Gemeinscha­ft nichts, du kannst nicht überleben«, sagt sie. »Die Frauen müssen selbst entscheide­n können, wie sie ihr künftiges Leben und das ihrer Kinder gestalten wollen. Das können sie besser hier als im Irak.« Andrea Johlige hofft, dass Brandenbur­g ihnen helfen kann.

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Foto: Andrea Johlige Landtagsab­geordnete Andrea Johlige (M.) im Gespräch mit einer jesidische­n Flüchtling­sfamilie in Shekal
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Quelle: Privat Andrea Johlige in der Zeltstadt des Ba´adre Flüchtling­s-Camps

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