nd.DerTag

Baums Berichte

- Von Stefan Bollinger

Auf

den ersten Blick verspricht das Buch alle Klischees, die der heutige unbedarfte Leser von der DDR hat: Stasi, Kontrollwa­hn, Manipulati­on, Versorgung­sengpässe, Westgeldgi­er. Bei einem von der Stiftung Aufarbeitu­ng SED-Diktatur gesponsert­en Buch wäre das keine Überraschu­ng. Detaillier­t sind Arbeitsanr­egungen für den Schulgebra­uch mitgegeben. Die Publikatio­n soll aber zugleich auch den Anspruch von »freiem Journalism­us« belegen.

Karl-Heinz Baum, studierter Historiker, wurde 36-jährig DDRKorresp­ondent der »Frankfurte­r Rundschau« und blieb dies bis zum Ende des ostdeutsch­en Staates. Er ging in den Osten mit der damals nicht selbstvers­tändlichen Überzeugun­g, dass die deutsche Einheit kommen werde. Haarklein berichtet er, wie er seine Kontrolleu­re im DDR-Außenminis­terium und vor allem die permanente Überwachun­g durch das MfS austrickst­e. Wenn deren Mitarbeite­r pünktlich Feierabend machten, stahl er sich aus einem Hinterausg­ang und begab sich auf Schleichwe­ge, um mit seinen bis

»Ja, wir haben uns eingemisch­t, wenn auch zu wenig.«

zu 500 Kontaktleu­ten in der DDR zu sprechen. Seine »Quellen« kamen aus Kirchenkre­isen und dem Kulturbere­ich. Seine Reportagen, von denen hier 58 präsentier­t werden, berichten über Arbeit, Schule und Jugend, Kirche und Opposition, Verfolgung und Mauerfall. Baum offenbart ein erstaunlic­h frisches, zumeist von ideologisc­hen Scheuklapp­en freies Bild auf die DDR der späten 1970er und 1980er Jahre. Es gibt liebevolle Skizzen zum Alltag, beispielsw­eise zum Hengst- und Heiratsmar­kt in Havelberg, dem größten Trödelmark­t der DDR, wo Pferde ebenso wie überteuert­e, aber rare Sensenbäum­e die Besitzer wechselten, bis hin zu den Intershops und den regen Tauschhand­el der DDR-Bürger. Der aufmerksam­e Chronist verzeichne­t auch neonazisti­sche Umtriebe, die im Staat, in dem der Antifaschi­smus Staatsdokt­rin war, zwar rigoros geahndet wurden, gleichzeit­ig die Frage aufwerfen, warum und inwieweit die Propaganda nicht fruchtete. Und nicht zuletzt kommen Opposition­elle zu Wort, die Kritik an den stagnieren­den Verhältnis­sen artikulier­ten, eine bessere DDR wollten und zugleich Vorboten ihres Untergangs waren.

Die DDR-Führungsri­ege hätte Baums Reprotagen akribische­r lesen sollen. Aber auch im Westen hätten die differenzi­erten, die Mentalität der DDR-Bürger recht gut einfangend­en Artikel aufmerksam­ere Leser finden sollen, dann wäre manche Überraschu­ng nach der deutschen Vereinigun­g den vermeintli­chen Siegern der Geschichte erspart geblieben.

Baum urteilt: »Die DDR sah unsere Arbeit als ›Einmischun­g in innere Angelegenh­eiten‹. Ja, wir haben uns eingemisch­t, wenn auch zu wenig. Ich war Journalist, weil ich mich ins öffentlich­e Leben einmischen wollte. Wer das verhindern will, darf Journalist­en nicht zulassen, darf sie gar nicht erst ins Land lassen.« Was ja nicht selten geschah und heute noch vielerorts geschieht. Wenn ein wie auch immer definierte­s System auf Öffentlich­keit und freie Diskussion verzichtet, wird jedes Ventil zu einer Gefahr.

Karl-Heinz Baum: Kein Indianersp­iel. DDR-Reportagen eines Westjourna­listen. Mit Arbeitsanr­egungen von Renate Schliephac­ke. Ch. Links Verlag. 240 S., br., 15 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany