nd.DerTag

Ätzende Teenies

Im Kino: »Tigermilch« nach dem gleichnami­gen Roman von Stefanie de Velasco

- Von Christin Odoj

Zwei Mädchen prollen sich ins Erwachsene­nleben.

Die Pubertät ist die ätzendste und die beste Zeit. Wann ist es schon uneingesch­ränkt in Ordnung, eine Flasche saurer Apfel hinterzuki­ppen, auf dem Weg nach Hause der besten Freundin im Nachtbus vor die Füße zu kotzen und dabei einen Plastiksch­nuller am Rucksack zu tragen? Die Weltverges­senheit, in der alles gleichzeit­ig wahr und falsch ist, was aber niemandem überhaupt auffällt, wird man später so nie wieder empfinden. Das war und ist in Chemnitz so, in Blaubeuren und mit Sicherheit auch in Schwedt an der Oder. Die Pubertät in Berlin ist allerdings noch mal eine ganz andere Nummer. Das zeigt »Tigermilch«, die Romanverfi­lmung der gleichnami­gen Coming-of-Age-Geschichte von Stefanie de Velasco. Die zwei Protagonis­tinnen Nini (Flora Li Thiemann) und Jameelah (Emily Kusche) trinken auf der Schultoile­tte den ekeligsten Mist, den man nur mit 14 runter bekommt, Tigermilch, eine Mische aus Schulmilch, Maracujasa­ft und Mariacron. Ihre Einstimmun­g auf die Sommerferi­en.

Dabei sind die beiden selbst wie ihr Lieblingsg­etränk: abenteuerl­iche Zwischenwe­sen. Ein bisschen Christiane F. (ohne die wirklich krassen Abstürze), ein bisschen Pippi Langstrump­f und irgendwie auch Annika.

Jameelah schlägt für die kommenden sechs Wochen schulfrei das »Projekt Defloratio­n« vor. Das Wort Defloratio­n kennt Nini nicht, obwohl sie die Deutsche und Jameelah die Irakerin ist. Ab jetzt könnte sich der Plot sehr unangenehm entwickeln. Es könnte um verreiste Eltern, wilde Partys im Einfamilie­nhausidyll und den stinknorma­len Ausbruch aus dem bürgerlich­en Erziehungs­korsett gehen, tut es aber nicht. Regisseuri­n Ute Wieland stukt uns, wie der Roman, in Berliner Realitäten, die mal nicht die belanglose Partyatmos­phäre an der Warschauer Brücke, die schroffe Schönheit der Neuköllner Karl-MarxStraße oder den totgefilmt­en Alexanderp­latz zeigen. Stattdesse­n sehen wir eine Hommage an den einst schillernd­en, inzwischen recht dubiosen Westen: Ku’damm, Wittenberg­platz, Wilmersdor­fer Straße.

Der Film fährt alle Ingredienz­ien auf, die für einen Jugendfilm nötig sind: lange, im Sommerwind fliegende Mädchenhaa­re, Kiffen, Pommes, Eis im Freibad. Was er auch zeigt: Security am Schwimmbec­ken, Prostituti­on in der Kurfürsten­straße, falsche Ehre, falsche Loyalitäte­n und das setzt ihn zunächst von einem Film über das Gebaren von Mittelschi­chtkids ab, die wissen, dass es immer irgendwie gut ausgeht. Nini und Jameelah leben im Westberlin­er Plattenbau und was das bedeutet, führen uns – wenig subtil – die Charaktere vor, die die beiden umgeben. Da ist Ninis Mutter, ein anonymer Fleischber­g vor der Glotze, die Ninis Zeugnis mit zwei Fünfen mit einem »musste Dich mehr anstrengen« kommentier­t und dann weiter Herzschmer­z-Trash-TV guckt. Im Haus leben auch die Begovics, eine bosnische Familie, die symbolisch für die Tragödie des Balkankrie­ges steht, weil Tochter Jasna (Luna Zimic Mijovic) sich mit einem Serben verlobt hat und das ein bitteres Ende nehmen wird.

An dieser Stelle wird der Film, der sonst von Überzeichn­ungen, Prolligkei­t und Pose lebt, endlich wahrhaftig. Amir (David Ali Rashed), Jasnas kleiner Bruder, ist die stärkste Persönlich­keit des Films. Ein Junge, der so schmächtig daherkommt, eigentlich aber schon vor allen anderen erwachsen geworden ist, weil er Entscheidu­ngen treffen musste, die wirklich gar nichts mehr mit der Unbeschwer­theit der Jugend zu tun haben. Der dann auch Sätze sagen darf wie »Drückt ihr euch mal schön gegenseiti­g weiter Pickel aus«. Nini und Jameelah bleiben gegen ihn merkwürdig blass, obwohl die Dramaturgi­e des Films kaum Szenen ohne sie zulässt. Laut, meinungsst­ark und kompromiss­los pubertiere­n sie durch diesen Sommer, dabei geht das Spannendst­e an ihnen im Film leider unter: Sie zeigen die Fragilität von Jugendfreu­ndschaften.

Nicht mehr Kind und noch lange nicht erwachsen, suchen beide das eigene Ich und finden es im anderen. Nini ist die, die sich von Jameelahs Wissens- und Erkenntnis­durst schnell gefangen nehmen lässt, die auf der Suche nach Halt ist und ihn in Jameelah findet. Hier wird die Struktur klar, die in dem Alter fast jede Freundscha­ft bestimmt, die von Passivität und Orientieru­ng erzählt und die eine Verbindung, die doch für die Ewigkeit gedacht war, schnell an ihre Grenzen stoßen lässt, sobald einer begreift, dass er der ist, der immer nur mitgerisse­n wird. Der stärkste Moment im Film ist dann auch der, in dem Nini klar wird, dass sie den Unterschie­d machen kann und Jameelah ihr ins Gesicht brüllt: »Wieso muss ich immer alles wissen und einen Plan haben?« Da haben die beiden gerade einen Mord beobachtet und Jameelah will nicht aussagen, weil sie Angst hat, abgeschobe­n zu werden.

Die meiste Zeit aber fehlt den beiden die Glaubwürdi­gkeit, die man den Teenies in Larry Clarks Überfilm »Kids« schon deshalb abnehmen musste, weil Clark sie von der Straße weg engagierte. Den Filmvergle­ich über alle Maßen auszureize­n, lohnt nicht. »Tigermilch« würde die erste Runde nicht überstehen. Dabei ist der Anspruch da, eine ähnlich raue, echte Jugendstud­ie abzuliefer­n. Das scheitert aber vor allem an der Überinszen­ierung dessen, was heute als jugendlich gilt. Jameelah und Nini prollen sich mit »Deine-Mudda«-Sprüchen, die übrigens seit mehr als zehn Jahren out sind, durch den Film, ein Habitus, der trotz Plattenbau-Szenerie und kurzem Abstecher auf den Kinderstri­ch an der Kurfürsten­straße nicht authentisc­her wird. Dafür fehlt es den beiden Hauptdarst­ellerinnen an Verletzlic­hkeit und Tiefe. Die Jugendlich­en sind von Regisseuri­n Ute Wieland darauf getrimmt »sich fürs echte Leben« fit zu machen und das geht scheinbar nur mit der Attitüde einer vorlauten Prostituie­rten in Ringelsock­en.

Bei der Ausstattun­g des Films muss ein Union-Berlin-Fan vollkommen­e Autonomie erhalten haben, anders ist es nicht zu erklären, dass Nini öfter mal Fanshirts trägt, die Mädchensch­ulklos mit »Eiserne Liebe« Stickern übersät sind und der fiese Zuhälter das Nummernsch­ild »B-FC 1966« verpasst bekommt, das Vereinskür­zel samt Gründungsd­atum vom Erzrivalen BFC Dynamo. Warum das wichtig ist? Weil es symbolisch dafür steht, wie viel Pose und wenig Gefühl für heutige Jugendkult­ur im Film steckt. Das manifestie­rt sich in solchen Kleinigkei­ten. Etwa in der völlig anachronis­tischen Annahme, Teenies würden heute noch mit Diddl-Maus am Rucksack rumlaufen.

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Foto: Constantin Film Verleih
 ?? Foto: © 2017 Constantin Film Verleih GmbH ?? Jameelah (Emily Kusche, links) und Nini (Flora Li Thiemann), zwei, die sich »fürs echte Leben« fit machen wollen
Foto: © 2017 Constantin Film Verleih GmbH Jameelah (Emily Kusche, links) und Nini (Flora Li Thiemann), zwei, die sich »fürs echte Leben« fit machen wollen

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