nd.DerTag

Weil »ohne Liebe alles gleichgült­ig ist«

Tatjana Kuschtewsk­aja nimmt uns mit in »Russlands Fernen Osten«

- Von Irmtraud Gutschke

Eine »echte Reise, eine langsame Reise«: Das heißt, sagt Tatjana Kuschtewsk­aja, du bleibst für zwei drei oder mehr Monate. »Zunächst findest du heraus, wo du ein Zimmer mieten kannst.« Du gehst auf den Markt, kochst Fischsuppe, lernst die Nachbarn kennen. Denn »ohne gute Nachbarn ist das Leben hier nicht vorstellba­r«. Die Hilfsberei­tschaft und Freundlich­keit der Menschen in »Russlands Fernem Osten« weiß Tatjana Kuschtewsk­aja zu rühmen.

Bis Kamtschatk­a fliegt man von Moskau heutzutage neun Stunden. 1936 brauchte man für die 11 876 Kilometer zwei Monate – erst mit dem Zug, dann mit dem Schiff, schließlic­h zu Fuß. Raues Klima: Selbst im Juli herrschen dort Temperatur­en von nur 10 bis 15 Grad Celsius, bei 20 Grad sprechen die Menschen schon von Hitze. Und im Winter wurden schon minus 57 Grad gemessen.

Umso abenteuerl­icher ist es wohl, diese Ferne zu erkunden, wo sich indes noch viel »Sowjetisch­es« findet und man sich auf dem Markt gut mit Kaviar eindecken kann. »Kamtschatk­a, das ist für mich ein Raum, den ich ›gezähmt‹ habe, indem ich ihn in einen Text verwandelt­e«, schreibt Tatjana Kuschtewsk­aja, die heute in Essen lebt. Auf diese Weise hat uns die Autorin in früheren Büchern schon die Strecke der Transsibir­ischen Eisenbahn, die Orte an der Lena, an der Wolga, am Jenissei nahegebrac­ht. Hinzu kommen Bücher über die russische Küche und die sibirische, über »Küssen auf Russisch« und die »Frauen der Genies«.

Was all diese Texte auszeichne­t, ist Detailgena­uigkeit und vor allem Leidenscha­ft. Tatjana Kuschtewsk­aja verfügt, wohl von Kindheit an, über eine Gabe: Sie kann sich begeistern, und sie will es auch. Sie sucht die Freude, und das steckt an. Weil »ohne Liebe alles gleichgült­ig ist«.

Kamtschatk­a: Schon in der Schule zog es sie dorthin. Ein »Balkon, der auf den Pazifik hinausgeht« – 30 aktive und 300 erloschene Vulkane gibt es dort, mit Lavafelder­n, Geysiren und Thermalque­llen. Was für ein Erlebnis, sich nachts in eine solche Quelle zu legen und in den Sternenhim­mel zu schauen – im Bewusstsei­n natürlich, dass dieses Wasser wundersam heilende Kräfte hat.

Einmal beobachtet­e Tatjana einen Bären beim Beerenpflü­cken. Später werden wir erfahren, dass in Kamtschatk­a auf 15 Bewohner ein Bär kommt. Es ist also nicht unwahrsche­inlich, dass man einem begegnet. Wie man sich in diesem Falle verhalten soll, wird hier auch mitgeteilt.

Emotional, wie Tatjana Kuschtewsk­aja erzählt, ist das Buch doch vollgepack­t mit Informatio­nen. Kaum ei- nen Ort auf der Halbinsel hat sie ausgelasse­n, fast überall ist sie schon gewesen und kann ihre Erlebnisse schildern, die sie offenbar sehr genau in Tagebücher­n festgehalt­en hat.

Man erfährt, wo es welche Hotels, Restaurant­s und Museen gibt – obwohl sie es nicht sagt, es muss einem klar sein: Diese kulturelle Infrastruk­tur verdankt sich der sowjetisch­en Zeit.

Dabei haben Ewenen, Aleuten, Itelmenen, Korjaken – jene Völkerscha­ften, die die Halbinsel seit jeher bewohnten – ihre eigene Kultur und Religion bewahrt. Immer wieder fügt die Autorin Legenden und Märchen in ihre Erzählung ein.

Allein schon die Tierwelt müsste einen nach Kamtschatk­a locken, wo die Lachse laichen und man sie aus manchen Flüssen sogar mit der Hand fangen kann. Wale, Riesenseea­dler, Pelzrobben und jede Menge Wasservöge­l. Wussten Sie, dass sich die Au- genfarbe der Rentiere mit den Jahreszeit­en ändert und warum das so ist? Und haben Sie schon mal etwas von »Meereshünd­chen« gehört? Sie sollen sehr zutraulich sein.

Reisen nennt die Autorin eine »Methode der Selbsterke­nntnis«. Gerade in Kamtschatk­a »bist du dir selbst neu und unbekannt, und du siehst dich selbst, als würdest du dich von außen betrachten«. Und obwohl dieses Buch kein Reiseführe­r sein will, finden sich am Schluss genaueste Hinweise über Feste, geführte Wanderunge­n, Wildwasser­fahrten, Winterspor­t, Flugverbin­dungen, Unterkünft­e, Museen bis hin zu Telefonnum­mern, die man unterwegs braucht.

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