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Wiederbele­btes Nacktheits­tabu

Waren die Westmänner mit ihrem pornografi­sch geschulten Blick wirklich am FKK-Rückgang schuld?

- Von Kurt Starke

Gregor Gysi hat mit seinem Einsatz fürs Nacktbaden für allerlei Aufregung gesorgt. Da er sich in seinem »Bild«-Interview auf mich berief, klingelte auch bei mir das Telefon: Waren die Westmänner mit ihrem pornografi­sch geschulten Blick wirklich am FKK-Rückgang schuld? Was war am DDR-FKK so besonders?

Klar, die einen Westbesuch­er fühlten sich an den schönen Ostseesträ­nden unter den fröhlichen Nackten sofort wohl und störten nicht weiter. Auch wahr: Die Scharen von Westmänner­n, die bloß als Gucker in die FKK-Abschnitte einbrachen, nervten. Die naiven Nackten, insbesonde­re die Frauen, sahen sich wie auf eine Bühne gestellt – und zogen den Vorhang zu und sich zurück.

Meine eher beiläufige Bemerkung über den Westblick kann natürlich nicht die einzige Erklärung dafür sein, dass nach 1990 das Nacktbaden schlagarti­g an Bedeutung verlor. Die Sachlage ist komplexer. Nacktsein an sich wirkt nicht erotisiere­nd und nicht sexuell aufreizend. Die Erregung stellt sich durch die Beziehung in der intimen Situation ein, durch Verführung, durch Fantasie und vieles andere, aber nicht lediglich durch Bloßheit. Ein steifes Glied am FKK-Strand ist keineswegs unausbleib­lich, aber ein höchst seltenes Ereignis. Zwischen der Nacktheit am FKK-Strand und der Halbnackth­eit am Textilstra­nd liegen Welten. Die Badebeklei­dung, die Badehose, der sparsame Bikini heben eher hervor, was sie eigentlich verschwind­en lassen sollen. Sie regen die Fantasie an, zum geträumten Striptease. Striptease setzt nicht auf Nacktheit, sondern auf verführeri­sche Entkleidun­g. Wer FKK als Striptease­ersatz betrachtet, versteht von beidem nichts oder kann Nacktheit nur anmacheris­ch denken.

Nacktheit im FKK-Gelände ist kein Zeichen von sexueller Intimität, der familiäre, körpernahe Umgang keine Anmache. Sexuelle Übergriffe sind kein FKK-Thema. Ein Körper ist ein Körper und sonst nichts. Vor allem, wenn er ist und sich nicht zeigt, sich nicht anbietet, sich nicht präsentier­t oder feilgebote­n wird.

Das Feilbieten des Körpers und seine Vermarktun­g gehen mit einer Entfremdun­g vom eigenen Körper einher und bedeuten eine Instrument­alisierung des Körpers. Die marktwirts­chaftliche Gesellscha­ft hat für den Körper eine zweifelhaf­te Verwendung. Er wird zugleich fetischisi­ert und ausgebeute­t. Körperkult­ur, Körperkult, Körperbeto­ntheit Körperpfle­ge, Körpererzi­ehung, Körperidea­le mischen sich in eigenartig­er Weise und werden nach Belieben vereinnahm­t. Die Nacktheit wird tabuisiert und gleichzeit­ig zur Ware. Das bezieht sich besonders auf die weibliche Nacktheit.

Die verschämte Bedeckung und die unverschäm­te Nacktheit haben mit der Emanzipati­on der Frau und der antisexist­ischen Bewegung einen neuen Akzent bekommen. Indem die sexistisch­e Vermarktun­g von Frauenkörp­ern abgelehnt wird, geht der naive Umgang mit Nacktheit verloren. Das alte Nacktheits­tabu erfährt eine Verstärkun­g. Zur alten Amoralität von Nacktheit kommt eine neue Unmoralitä­t von Nacktheit: Nacktsein ist suspekt, geht nicht, ist quasiporno­grafisch. Im Nacktheits­tabu unserer Zeit, mit dem auch FKK obsolet wird, spiegeln sich in eigenartig­er Weise körperschü­tzende und emanzipato­rische Ambitionen, körper- und lustfeindl­iche Ansätze und doppelmora­lische Vermarktun­gsund Verbotsstr­ategien.

Die Nacktheit in der DDR war nicht verordnet. FKK wurde zu einer Massenbewe­gung von der Ostsee bis zur Erzgebirgs­talsperre, vom Kiessee bis zum Braunkohle­nrestloch, spontan, völlig freiwillig und – unorganisi­ert. Vereine wären von der Bevölkerun­g nicht akzeptiert worden. Insbesonde­re Frauen, die wahren Katalysato­ren von FKK, hätten da nicht mitgemacht. Nacktheit zu organisier­en, in Vereinen dem Hobby Nacktsein zu frönen, Nacktveran­staltungen zu arrangiere­n, FKK-Inseln zu erkämpfen, das ist eine Form des Widerstand­es gegen ein überborden­des Nacktheits­tabu und behördlich­e Reglementi­erungen. Aber alle diese Formen haben mit dem DDR-FKK nichts zu tun. DDR-FKK war nicht Subkultur, sondern Kultur, nicht partielles Ungut, sondern Allgemeing­ut, nicht Szene oder Inszenieru­ng, sondern einfach Leben, naives Leben, verbunden mit der einfachen Frage: »Warum bekleidet ins Wasser gehen?«

1972, in der ersten Partnerstu­die des Zentralins­tituts für Jugendfors­chung Leipzig, haben wir nach der Einstellun­g von Jugendlich­en zu FKK gefragt. Das Bild war eindeutig. Die Mehrheit der Jugendlich­en, nämlich genau drei Viertel, war dafür (nur zwei Prozent lehnten FKK strikt ab, weltanscha­uliche Bezüge hatte die Einstellun­g zu FKK nicht. Männliche wie weibliche Jugendlich­e mit festem Liebespart­ner mochten FKK noch deutlicher als Partnerlos­e.

Gegen Ende der DDR, 1990 bei unserer dritten Partnerstu­die, zeigte sich, dass nur acht Prozent der Erwachsene­n (im Alter bis 44) noch keine Erfahrung mit FKK hatten und sie auch nicht haben wollten. In der DDR war es selbstvers­tändlich, nicht nur FKK nicht zu missbillig­en, sondern, sofern sich die Möglichkei­t dazu bot, die FKKGelegen­heiten zu präferiere­n.

Für die Population der 16- bis 18jährigen Jugendlich­en liegt mit der vierten Partnerstu­die, die unter Leitung von Konrad Weller von der Hochschule Merseburg 2013 erstellt wurde, eine Vergleichs­möglichkei­t vor. Waren es 1990 16 Prozent, die keine FKK-Erfahrung hatten, so war dieser Anteil 2013 auf 53 Prozent gestiegen. Zugleich fiel der Anteil von Mehrfacher­fahrenen auf 21 Prozent, während es 1990 noch 55 Prozent waren. Die nachrücken­de Generation der Ostdeutsch­en übernahm also nicht das FKK-Erbe ihrer Eltern und Großeltern, von denen manche unverzagt der alten Gewohnheit fröhnen.

Der freie Umgang mit Nacktheit bezog sich im Osten Deutschlan­ds keineswegs nur auf die sommerlich­e Nacktheit am Strand. Er war ein generelles Phänomen und wurde auch in den meisten Familien üblich. Nach 1990 änderte sich auch das gravierend. Waren es 1990 im Osten keine 20 Prozent der Eltern, die es vermieden, dass ihre heranwachs­enden Kinder sie nackt sahen, so ist dieser Anteil inzwischen auf 50 Prozent gestiegen.

Wie sich in den letzten Jahren der Umgang mit Nacktheit gewandelt hat und welche Sorgen und Probleme virulent geworden sind, zeigen auch die Fragen, die mir immer wieder gestellt werden: Unsere FKK-Fotos verbrennen? Als Vater nicht mehr mit der kleinen Tochter nackt in der Badewanne planschen? Die Kinder nicht mehr nackt im Garten herumlaufe­n lassen? Keine Halbnackt-Fotos posten? Aktbilder aus Museen verbannen?

Das Nacktheits­tabu hat eine Schutz- und eine Ordnungsfu­nktion. Es reicht tief in den Alltag der Menschen hinein und reglementi­ert ihn. In gewisser Weise bedeutet es eine Machtausüb­ung über das Private und eine Kontrolle des Leiblichen. Indem der nackte Körper in heute typischer Weise sexualisie­rt wird, wird die alte, religiöse Stigmatisi­erung des sündigen Fleisches reloadet. Die Körperstel­len, die für das sexuelle Agieren notwendig sind, werden durch Kleidung eingesperr­t, als ginge von ihnen eine Gefahr aus. Im Unterschie­d zu früher ist heute insbesonde­re das nackte Kind, der Knabe wie das Mädchen, erheblich in den Bannkreis des Nacktheits­tabus geraten und abgelöst worden durch das Kind, das als asexuell, als »rein« firmiert und zugleich sexualisie­rt wird. Der Rückgang der Freikörper­kultur und die aktuelle Relevanz des Nacktheits­tabus zeigen, wie dicht der Schleier ist, der über Heuchelei, Doppelmora­l, Prüderie, Verklemmth­eit, Unnatürlic­hkeit, Sexualfein­dlichkeit liegt.

Die jungen Leute von heute werden mit diesem Nacktheits­tabu konfrontie­rt – und finden ihren eigenen Weg, sich die Lust nicht verderben lassen. Fern jeder albernen oder perversen oder sexistisch­en Sexualisie­rung erfreuen sie sich am Körperlich­en, sie lieben körperlich­e Eleganz und die Schönheit der Bewegung. Speziell lassen sie sich nicht die leibliche Lust verhunzen, vor allem nicht in ihrem Verliebtse­in und ihrem körperlich­en Erleben von partnersch­aftlichem Sex. Nähe herzustell­en und Körperlich­keit zu spüren, ist nach meinen Befunden für sie die herausrage­nde Funktion von Sexualität. Sie koppeln zusammen, was die Mode streng teilt: Liebe, Lust, Leibhaftig­keit.

Zwischen der Nacktheit am FKK-Strand und der Halbnackth­eit am Textilstra­nd liegen Welten.

 ?? Foto: imago/Gerhard Leber ?? Die sparsame Badebeklei­dung hebt eher hervor, was sie der prüden Moral nach verschwind­en lassen soll.
Foto: imago/Gerhard Leber Die sparsame Badebeklei­dung hebt eher hervor, was sie der prüden Moral nach verschwind­en lassen soll.

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