Die lange Nacht des Wartens
Das LAGeSo-Chaos ist vorbei. Jetzt stehen die Menschen vor der Ausländerbehörde
Wer schnell einen Termin bei der Ausländerbehörde braucht, muss früh aufstehen. Der rot-rot-grüne Senat will deshalb das Personal aufstocken. So manches Problem ist allerdings hausgemacht. Es ist halb vier, als ein Wachmann anfängt, die Sonnenblumen zu gießen. Er kommt mit einer Gießkanne auf den Hof, läuft die wenigen Meter am Gittertor vorbei, gibt den Blumen vor dem langen weißen Zelt Wasser. Immer wieder läuft er zurück ins Gebäude, kommt mit einer vollen Kanne zurück und gießt. Vor dem Gittertor stehen an diesem Dienstag rund 70 Menschen in einer langen Schlange. Ein alter Mann aus der Ukraine beschwert sich: »Leute mit stärkerem Charakter würden sagen: Viel Glück, ich geh nach Hause!« Doch den meisten Menschen hier bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. Manche von ihnen sind bereits seit dem Vorabend vor der Ausländerbehörde am FriedrichKrause-Ufer in Moabit. Sie wollen ihren Aufenthaltstitel verlängern, nach Berlin umziehen oder ihre Familie nachholen.
Es ist fast zwei Jahre her, dass Hunderte Geflüchtete nächtelang bei Minusgraden oder tagsüber in sengender Hitze ohne Schatten und Wasser auf der Straße vor dem damals noch zuständigen Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) ausharrten, um sich registrieren zu lassen. Die Zeiten sind vorbei. Doch jetzt warten einige von ihnen nachts vor der Ausländerbehörde.
Ein junger Mann in Hemd mit Blumenmuster, Strickjacke und Schirmmütze spaziert um 1.15 Uhr langsam die Straße hinunter, verschwindet hinter einer Kurve, taucht wieder auf, läuft in die andere Richtung. Im Rucksack trägt er eine Mappe mit sich, darin ein Schreiben der Kunsthochschule Weißensee, die ihm eine Gasthörerschaft bestätigt. Yilmaz Ibrahim Basha ist Syrer, floh vor dem IS in die Türkei und arbeitete dort als Fotograf und Dolmetscher für verschiedene ausländische Medien. In der »Neuen Zürcher Zeitung« erschien 2013 ein Artikel über ihn. Vor zwei Jahren floh er dann weiter nach Deutschland und landete in Norddeich in Ostfriesland, wo er nun mit Frau und Tochter lebt. Umziehen darf er nur, wenn er einen guten Grund dafür hat. Er hofft, dass die Gasthörerschaft ausreicht, um auch seine Familie nach Berlin mitzunehmen. Er fragt: »Berlin hat zwölf Jobcenter. Warum hat die Stadt nur eine Ausländerbehörde?«
Seit Mitternacht wartet Basha am Friedrich-Krause-Ufer. Andere Geflüchtete machen ihn auf eine selbst organisierte Warteliste aufmerksam, die eine Gruppe junger Syrer führt. Dort steht er nun auf Platz zwölf. Um vier Uhr sollen die Wartenummern ausgegeben werden. Um 7 Uhr öffnen die Türen der Ausländerbehörde.
Mehr Menschen kommen. Manche mit dem Fahrrad, andere mit dem Taxi, wieder andere parken ihr Auto direkt vor dem Gebäude. Aus einem Van steigt eine ganze Familie aus, ein etwa zehnjähriger Junge ist dabei und ein Baby. Einige setzen sich an den Straßenrand, andere stehen in Grüppchen zusammen, rauchen. Ein Mann hat eine Decke dabei und schläft auf einer Isomatte auf einem Stück Rasen vor dem Tor.
Die Ausländerbehörde liegt mitten in einem Industriegebiet neben dem Heizkraftwerk Moabit. Die Gegend ist öde, das nächste Café weit weg. Plötzlich riecht es nach frisch Gebackenem. Neben dem Eingang zum Amt hat ein junger Mann eine Glastür geöffnet und sich rauchend auf eine Stufe gesetzt. Erst in vier Stunden wird der Backshop die ersten Kunden bedienen.
Die meisten Wartenden sind Syrer, es sind aber auch Palästinenser dabei, Iraker, Osteuropäer, Asiaten, USAmerikaner. Nicht nur Geflüchtete hoffen, auf diese Weise kurzfristig von einem Sachbearbeiter bedient zu werden, weil online je nach Anliegen erst im Oktober oder sogar November wieder ein Termin frei ist. Der Programmierer Will aus den USA – seinen Nachnamen möchte er nicht nennen – beginnt am Morgen einen neuen Job. Zum Dienstantritt braucht er aber eine entsprechende Aufenthaltsgenehmigung der Ausländerbehörde. Bisher hatte er lediglich ein Praktikumsvisum. Tags zuvor fuhr er morgens um sechs Uhr zur Ausländerbehörde. Die Schlange war lang, man sagte ihm, dass er nicht mehr bedient werden könne. Deshalb ist er dieses Mal schon um drei Uhr morgens vor Ort. Auf der selbst organisierten Warteliste steht er auf Platz 45.
Es ist 3.30 Uhr, als sich einer der Syrer vor das Tor stellt, ein Büchlein zückt und Namen ausruft. Mahmud Mohammed ist der Erste. Einer nach dem anderen reihen sich die Wartenden in eine Schlange hinter ihm auf. Mohammed wartet seit 22 Uhr abends vor der Ausländerbehörde – auf der informellen Liste hat er den Warteplatz Nummer 1. Seit einem Jahr lebt er in Frankfurt (Oder), er möchte zu seinen Eltern ziehen, die hier in einer Flüchtlingsunterkunft leben, und eine Ausbildung beginnen. Seit einer Woche schläft der 19-jährige kurdische Syrer bei seiner Tante in Berlin. Bei den Eltern darf er nicht schlafen, im Heim dürfen sie keinen Besuch über Nacht haben. Mohammed ist nicht zum ersten Mal an der Ausländerbehörde. Doch egal, ob er um 6 oder um 5 Uhr morgens ankam, für eine War- temarke war er immer zu spät. Dieses Mal wollte er nichts riskieren.
Um 4 Uhr öffnet ein Wachmann das Tor. Die Wartenden dürfen nur einzeln in das Zelt eintreten, wo andere Mitarbeiter der Sicherheitsfirma Wartemarken in unterschiedlichen Farben ausgeben. Syrer erhalten hellgelbe Zettel mit kryptischen Nummerncodes. Vier Zelte sind auf dem Gelände aufgebaut, die langen Stuhlreihen könnten mehreren Hundert Menschen Platz bieten. Doch mehr als 40 oder 50 Marken werden normalerweise nicht ausgegeben, erzählen Geflüchtete, die schon häufiger hier waren. Heute erhalten alle 70 Menschen in der Schlange einen Wartezettel. Syrer, die später kommen, werden mit den Worten abgewiesen, für Menschen aus ihrem Land gebe es keine Wartenummern mehr. Auch Will erhält keine Marke. Er braucht keine, sagen die Wachmänner. Er soll sich direkt vor Haus C einfinden. Noch ist das Tor zum Gelände der Behörde allerdings geschlossen. Will stellt sich vorne an das Gitter und verlässt den Platz nicht mehr, bis das Tor um 6 Uhr geöffnet wird.
Wie viele Marken pro Tag vergeben werden, richtet sich nach der »täglichen Personalstärke des jeweils zuständigen Sachgebietes«, erklärt die Senatsverwaltung für Inneres auf Anfrage. Im ersten Halbjahr 2017 hätten etwa 213 000 Kunden vorgesprochen, davon rund 45 Prozent mit Termin. »Sofern kapazitär möglich, werden weitere Wartenummern im Laufe der Öffnungszeiten ausgegeben«, so die Verwaltung weiter.
Hakan Taş, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, macht den Personalmangel in der Behörde für die Zustände verantwortlich. »Viele Menschen haben Anliegen, die schnell bearbeitet werden müssen.« Auf einen Termin müssten sie teils sechs Wochen warten. »Das ist nicht hinnehmbar.« Tatsächlich ist für den Doppelhaushalt 2018/2019 eine Aufstockung der Stellen in der Ausländerbehörde vorgesehen, teilt die Innenverwaltung mit. Die genaue Anzahl klärt sich im Herbst, wenn der Haushalt beschlossen wird.
Auch Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin spricht von einer »Überlastung« der Behörde. Die sei zum Teil aber selbst gemacht. »Rechtlich gesehen ist die Ausländerbehörde des vorherigen Wohnorts für den Wohnortwechsel zuständig. Aber Berlin besteht darauf, selbst darüber zu entscheiden.«