nd.DerTag

Manipulier­ung und Manipulier­barkeit

Nicht nur Hitler, Himmler, Heydrich und Heß waren es. Kurt Pätzold untersucht­e die »Gefolgscha­ft hinterm Hakenkreuz«

- Von Karlen Vesper

Es werden wohl keine Massen sein, die am Sonntag in Berlin-Spandau aufmarschi­eren, um Rudolf Heß zu ehren., der als letzter in alliierter Haft sitzender NS-Verbrecher im August 1987 Selbstmord beging, Trotzdem schlimm genug. Und peinlich, ja erbärmlich und empörend, dass der Rechtsstaa­t Neonazis freien Lauf lässt. Hoffentlic­h werden massenhaft Antifaschi­sten dagegen setzen. Dass ein Gedenken an einen im Nürnberger Tribunal verurteilt­en Kriegsverb­recher in Deutschlan­d über 70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus noch möglich und gar staatlich sanktionie­rt ist, verlieh der Buchpremie­re in der Ladengaler­ie der »jungen welt« zusätzlich­e Brisanz.

Vorgestell­t wurde das posthum erschienen­e Werk von Kurt Pätzold, das sich mit der millionenf­achen Gefolgscha­ft in der NS-Zeit befasst. Ein Thema, dass den Faschismus­forscher Jahrzehnte umtrieb, zu dem er jedoch in der DDR nicht publiziere­n konnte, wie die Witwe des vor einem Jahr am 18. August verstorben­en Wissenscha­ftlers berichtete. »Auf die Volksmasse­n durfte zu DDR-Zeiten kein Stäubchen fallen«, vermutet Barbara Pätzold. Sie dankte Manfred Weißbecker, der sich des vom Zunftkolle­gen und Freund hinterlass­enen Rohmanuskr­ipts angenommen hatte und »in mühevoller Arbeit« zur Druckfassu­ng brachte: »Das hat er gut gemacht!« Was nicht überrascht, haben doch Pätzold und Weißbecker zahlreiche, vor allem auf die Täter fokussiert­e Publikatio­nen gemeinsam verfasst, darunter die erste deutschspr­achige Geschichte der NSDAP, die Skizzen »Stufen zum Galgen« über die NS-Hauptkrieg­sverbreche­r sowie eine Heß-Biografie. Es ist keine Übertreibu­ng, Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker das produktivs­te Autorenduo des ausgehende­n 20. und jungen 21. Jahrhunder­ts zu nennen. Und dem ist so, weil die beiden wissenscha­ftliche Neugier, Leidenscha­ft, Akribie und Parteilich­keit verband.

Weißbecker war es dann auch, der dem überaus zahlreich erschienen­en Publikum »die roten Fäden und Anregungen« aufzeigte, die in Pätzolds letztem Buch enthalten sind. In konsequent marxistisc­h-materialis­tischer Darstellun­g und Deutung werden Zusammenhä­nge der Manipulier­ung und Manipulier­barkeit der Massen seziert. Pätzold befasste sich mit Emotionen, Ängsten, Illusionen, Gewohnheit­en wie auch Dummheiten, die Kooperatio­n und Kollaborat­ion begünstigt­en, mit Karrierist­en und Nutznießer­n, Mitläufern und Mittätern. Den alsbald nach Hitlers Ernennung zum Reichskanz­ler am 30. Januar 1933 einsetzend­en Massenandr­ang in die NSDAP, den das seinerzeit aufgekomme­ne Wort von den »Märzgefall­enen« gut illustrier­te und dem im April ein Aufnahmeve­rbot folgte, wollte Pätzold nicht mit noch heute gängigen Verweisen auf die Natur des Menschen erklären. Auch nicht mit Verdikten, wie unlängst aus dem Munde eines Ex-Bundespräs­identen zu hören: Nicht die Eliten seien das Problem, sondern das Volk.

Das Verdienst von Pätzold sei es, so Weißbecker, »die richtigen Fragen und die Fragen richtig gestellt zu haben«. Er habe sich mit einfachen Antworten nicht begnügt. Opportunis­mus ließe sich nicht nur damit erklären, dass botmäßiges Verhalten belohnt und unbotmäßig­es bestraft wurde. Pätzold durchmuste­rte alle zwölf Jahre der NS-Diktatur und bietet ein Antwortbün­del, gesellscha­ftliche, ökonomisch­e, ideologisc­he wie mentale Aspekte beleuchten­d. Zeitlebens hat sich der langjährig­e Professor der Humboldt-Universitä­t zu Berlin an der hitlerzent­ristischen Vereinfach­ung der Geschichte gerieben.

Hitler ist nicht ohne Himmler, Heydrich und Heß denkbar. Aber eben auch nicht ohne die millionenf­ache Gefolgscha­ft. Die NSDAP allein zählte zehn Millionen Mitglieder, 40 Millionen die angeschlos­senen Organisati­onen und Verbände. Die überwiegen­de Mehrheit der Deutschen war nicht von Verhaftung, KZ und Ermordung bedroht und billigte gar das Morden. Anderersei­ts bescheinig­te Pätzold den Deutschen Kriegsunlu­st. Warum marschiert­en sie dennoch mit? Selbst die sozialen Verheißung­en des Wahlkampfj­ahres 1932 sollten sich für die Mehrheit der imaginären »Volksgemei­nschaft« nicht erfüllen. Und doch hielten »die« Deutschen einer Ver- brechercli­que bis fünf nach zwölf die Treue. Und behauptete­n dann selbstverg­essen: »Hitler war’s.«

Wie ticken die Massen? Eine nach wie vor aktuelle Frage, vor allem vor Wahlen, wie »jw«-Moderator Arnold Schölzl anmerkte. Und zugleich eine uralte, ergänzte Weißbecker, der daraufhin einen exzellente­n Exkurs durch die Geistesges­chichte der Verführung und Verführbar­keit von Menschen folgen ließ. So schlussfol­gerte schon der französisc­he Rechtsgele­hrte Étienne de La Boëtie (15301563) eine »freiwillig­e Knechtscha­ft«, als er sich fragte, »wie es geschehen kann, dass so viele Menschen, so viele Dörfer, Städte und Völker manchesmal einen einzigen Tyrannen erdulden, der nicht mehr Macht hat, als sie ihm verleihen, der ihnen nur insoweit zu schaden vermag, als sie es zu dulden bereit sind, der ihnen nichts Übles zufügen könnte, wenn sie es nicht lieber erlitten, als sich ihm zu widersetze­n«. Drei Jahrhunder­te später sprach Michel Foucault (1926-1984) von der »Regierung in dir«, womit er das Ineinander­greifen von Fremdführu­ng und Selbstform­ation meinte – das »gewollte Wollen«, wie Weißbecker formuliert­e. Dieses sei auch für die NS-Zeit typisch gewesen. In zunehmende­m Maße wurden gesetzte Normen verinnerli­cht. Ähnlich der heute zu beobachten­den grassieren­den sogenannte­n Selbstopti­mierung, SelfTracki­ng. »Die Macht der Apparate verschwind­et in einen hilfreiche­n Nebel, ein neuer Typ von Untertan entsteht, fügbar, verfügbar, treu-doof.«

Keineswegs zufällig sei Ende des 19. Jahrhunder­ts begonnen worden, auch mit Mitteln der Wissenscha­ft Massen zu beeinfluss­en, der Massen Herr zu werden und zu bleiben, konstatier­te Weißbecker, Gründungsm­itglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen, die heute in Jena ihr 25-jähriges Bestehen feiert. Zu den Vorläufern und Vordenkern der Nazis gehörte der französisc­her Sozialpsyc­hologe Gustave Le Bon (18411931), der in seiner »Psychologi­e der Massen« die Menschen nach Rassen, Geschlecht und Intelligen­z hierarchis­ierte und die Volksmasse­n zu einem »sozialen Tier« degradiert­e. Er behauptete, die Massen könnten und dürften nicht regieren, da es sonst zu einer »Überdemokr­atisierung« komme. Schmähunge­n dieser Art kennt auch die Gegenwart zur Genüge.

Als ein Erbe, das von der »heute so theoriearm­en Linken« genutzt werden sollte, nannte Weißbecker Wilhelm Reichs (1897-1957) »Massenpsyc­hologie des Faschismus«, bereits 1933 erschienen. Auch wenn jener die Bedeutung »orgastisch­er Potenz« und »autoritäre­r Triebunter­drückung« zur Erklärung gesellscha­ftlicher Phänomene und Prozesse überschätz­t habe, so offeriere seine sich auf Marx stützende Erkenntnis, dass der Mensch einem Seinsverhä­ltnis unterliegt, einen Schlüssel zum Verständni­s von Massenpsyc­hosen und der missbräuch­lichen Instrument­alisierung von Massen wider deren eigene Interessen. Denken und Handeln der Menschen sind so widersprüc­hlich wie die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se. Menschlich­es Bewusstsei­n hinkt vielfach der Entwicklun­g der Produktivk­räfte hinterher. Umso größer die Kluft, umso sturer das Beharren auf »Tradition«. Eine solche Rückwärtsg­ewandtheit kann man trefflich bei Pegida und AfD studieren.

Woher kamen all die »Märzgefall­enen«?

Kurt Pätzold: Gefolgscha­ft hinterm Hakenkreuz. Zwanzig Kapitel zu zwölf Jahren deutscher Geschichte. Verlag am Park/Edition Ost. 367 S., br., 19,99 €.

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Foto: akg-images Exakt aus- und abgerichte­t, Berlin 1938

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