Vollspannschuss nach Gehör
In Berlin beginnt die Europameisterschaft der Blindenfußballer. Der Sport hat in Deutschland eine rasante Entwicklung hinter sich
Vor elf Jahren kam der Blindenfußball nach Deutschland. Nun ist Berlin erstmals Austragungsort einer EM. Das deutsche Team fiebert der Atmosphäre entgegen – laute Gesänge sind aber nicht gefragt. Laut hallt die für Außenstehende kryptische Anweisung über den idyllisch gelegenen Kunstrasenplatz im Berliner Westen. »Schwarz zwei, schwarz zwei.« Gekonnt dribbelt Taime Kuttig den rasselnden Ball zwei Schritte zur Seite und hämmert ihn ins obere Toreck. Die Kombination aus Farbe und Zahl steht für eine bestimmte Freistoßvariante, auch beim folgenden Angriff ruft ein Trainer hinter dem Tor immer wieder Kommandos ins Spiel, vor Zweikampfduellen warnen sich die Spieler gegenseitig mit Rufen.
Beim Blindenfußball entscheidet neben Technik und Ballgefühl auch ein feines Gehör – weshalb sich das deutsche Nationalteam zwar unbändig auf die Atmosphäre bei ihrer ersten Heim-EM freut, während der Spiele aber immer wieder eher gedämpfte Tennisstimmung benötigt. »Wenn der Ball im Tor oder im Aus ist, können die Fans gerne ausrasten, jubeln und singen«, erläutert Torwart Sebastian Themel, »aber ansonsten ist Ruhe gefordert. Sonst leidet auch das Spiel darunter.«
Bis zu 2000 Zuschauer werden von Freitag an zu den Spielen in der Arena am Anhalter Bahnhof in der Hauptstadt erwartet, das Eröffnungsspiel gegen Italien ist fast ausverkauft. Eine rasante Entwicklung des Sports, den es in Deutschland erst seit gut einem Jahrzehnt gibt. »Wenn wir den jungen Spielern erzählen, wie amateurhaft das anfing, würden sie mit dem Kopf schütteln und wahrscheinlich gar nicht mitmachen«, erinnert Kapitän Alex Fangmann.
Vor allem Englands Nationalteam vermittelte 2006 bei einem Workshop in Berlin das Basiswissen, der 32-Jährige war vom ersten Tag an dabei. »Es ist cool, dass viele Freunde und Familienmitglieder sich die Spiele mal vor Ort anschauen können«, schwärmt der Spieler vom MTV Stuttgart über die Heim-EM mit insgesamt zehn Teilnehmern.
Vier Spieler pro Team stehen auf dem mit Banden umgrenzten Feld und tragen Masken, um unterschiedliche Sehstärken auszugleichen, sowie einen Kopfschutz gegen Zusammenstöße. Dazu kommt der Torwart, der als einziger sehend ist – und mit Halten und Guiden (Rufen) gleich zwei Aufgaben hat. Aus sechs Metern fliegen die schweren Bälle beim Strafstoß aufs Tor. »Dort wo die Rasseln eingenäht sind, ist der Ball ganz schön hart, das möchte man nirgendwo hinbekommen, wo es wehtut«, erzählt der Chemnitzer Themel.
Das deutsche Team will ins Halbfinale, was die Qualifikation für die WM 2018 bedeuten würde. Titelverteidiger ist die Türkei, wo semiprofessionell gespielt wird. In Deutschland sind hingegen lediglich 30 Spieler überhaupt auf Nationalmannschaftsniveau, berichtet Manager Rolf Husmann. Auf den neuen Trainingspullis prangt das Logo der DFB-Stiftung Sepp Herberger, auch das Trainingslager wurde so finanziert. »Wir hoffen, dass sich das noch ausbaut«, sagt Husmann zur Unterstützung des Deutschen Fußball-Bunds.
Auch auf anderen Gebieten ist eine größere Öffnung zu erkennen. So wechselte Kuttig zuletzt zu Borussia Dortmund, das den Blindensport in die Fußballabteilung integrierte. Ein großer Traum ist aber noch unerfüllt: Die Teilnahme bei den Paralympics. »Wir haben aufgeholt«, sagt Cheftrainer Ulrich Pfisterer optimistisch. »Auf europäischer Ebene kann alles passieren.«