nd.DerTag

Die grauen Herren von der FDP

Langzeitko­nten sollen den Menschen die Zeit zurückbrin­gen. In Wirklichke­it unterwerfe­n sie das Jetzt der Zukunft

- Von Florian Haenes

Michael Ende erfand die Zeitsparka­sse als Allegorie auf die Beschleuni­gung. Nun könnte die FDP den Zeitraub in die Tat umsetzen. Eine Gefahr für die Demokratie. Man wird den Verdacht nicht los, dass Christian Lindner ein Agent der Zeitsparka­sse ist: Der graue Anzug, die graue Krawatte, die schwarz-weiße Optik der aktuellen FDP-Kampagne; dann diese Eile, wie sich Linder auf einem Plakat in Hast den grauen Mantel überwirft, nebenan der Slogan: »Nichtstun ist Machtmissb­rauch«. Es wabert ein kalter Rauch durch diese Kampagne, als wäre die verklärte alte Bundesrepu­blik ins 21. Jahrhunder­t katapultie­rt worden: Linder gibt den grauen Herrn, bloß fescher, ohne Hut, Aktentasch­e und Zigarre.

In Michael Endes Märchenrom­an »Momo« von 1973 sind dies die Accessoire­s der Vertreter der Zeitsparka­sse, die den Menschen mit dem Verspreche­n ihre Zeit raubt, sie mit Zins zurückzuza­hlen: »Gesparte Zeit ist doppelte Zeit«. Mit demselben Verspreche­n wirbt die FDP um Wähler.

Mit dem Argument Zeitsouver­änität lockt die FDP in diesem Wahlkampf für das sogenannte Langzeitko­nto: Darauf sollen Erwerbstät­ige Überstunde­n, Urlaubstag­e und ein Teil des Lohns ansparen. Der Clou ist, dass die Zeit in Geld umgewandel­t und in Zukunft mit Zins zurückgeza­hlt wird. So sollen Erwerbstät­ige sich Auszei- ten erarbeiten. Zwar gibt es Langzeitko­nten bereits auf Grundlage betrieblic­her Vereinbaru­ngen. Die FDP will sie jedoch betriebsun­abhängig einrichten. Unterstütz­ung erhält sie von der SPD: Im »Weißbuch Arbeiten 4.0.« überlegt das Arbeitsmin­isterium überlegt, Bürgern bei der Deutsche Rentenkass­e ungefragt ein Zeitsparko­nto einzuricht­en.

Die sklavische Logik des Zeitsparen­s unterwirft das Jetzt der Zukunft: Tage rasen dahin, das Leben erkaltet, schreibt Ende. In seinem Buch zapfen die grauen Herren den Menschen Lebenszeit ab: »Wir reißen sie an uns, wir speichern sie auf, wir brauchen sie, uns hungert danach«, geifern sie. Mit Unterzeich­nung des Zeitsparve­rtrags wird den Menschen die Seele – ihr Organ für Zeitwahrne­hmung – entrissen und in den gigantisch­en, unterirdis­chen Kältefrost-Bunkern der Zeitsparka­sse eingelager­t. Fortan schuften die Menschen, dem Trug verfallen, ihr Gespür für die Zeit wieder zu erlangen. Momo wird die Seelen schließlic­h befreien.

Die Zeitsparka­sse war eine Allegorie auf die Beschleuni­gung des 20. Jahrhunder­ts. Nun wird sie Wirklichke­it. Die Hast hat den Menschen das Glück geraubt. Den Politikern raubt sie den Verstand: Die FDP beschwört derzeit einen Regierungs­stil von verblüffen­d freimütige­m Aktionismu­s herauf: »Digitalisi­erung First. Bedenken Second,« heißt es allen Ernstes auf einem Plakat – darauf ist Lindner ab- gebildet, wie er in rasendem Stillstand aufs Smartphone stiert. Wegen digitaler Kopflosigk­eit wird über einen vom Internet katalysier­ten Faschismus diskutiert. Überzogen, vielleicht. Die FDP erklärt jeden Zweifel gleich zum Laster. Sie führt eine Hatz gegen die Nachdenkli­chkeit; bei genauer Betrachtun­g ist das eine Treibjagd auf die Demokratie. Denn zu den »checks and balances« jeder Verfassung­sordnung müsste neben Gewaltente­ilung auch Nachdenkze­it für Politiker und Bürger gehören.

Innehalten – »stop and think« – ist der Kern von Hannah Arendts politische­r Ethik. Ihr fällt beim EichmannPr­ozess 1961 auf, dass der Holocaust- Architekt innerlich stumm war – nicht dumm, aber gedankenlo­s; im Regelnetz der Haftanstal­t fühlte er sich ebenso geborgen, wie im Apparat der Nationalso­zialisten. Doch frei fliegende Gedanken – Träumerein – würden ihn hilflos machen. Der Tagtraum ist politisch, weil er Regeln auflöst. Er bringt das Gewissen ans Licht.

Unter Zeitsparer­n ist der Tagträumer der Verbrecher, schreibt jedoch Ende, der sich 1945 mit 15 Jahren dem Widerstand anschließt. Die Geschichte der Widerstand­sträumer ist nie geschriebe­n worden. Im Zentrum einer solchen Erzählung müsste Helmut James von Moltke stehen. In einer Tagebuchno­tiz wird die widerständ­ige Reglosigke­it dieses Träumers geschilder­t: »In einer Ecke sitzt, still in den Sessel zurückgele­hnt, ein ernster Mann. Betrachtet aus großen Augen aufmerksam jeden Anwesenden. Er spricht wenig. Mischt sich kaum in die leidenscha­ftliche Unterhaltu­ng... ›Wer war der Herr?‹ erkundige ich mich, als der schweigsam­e Unbekannte sich früher als alle anderen verabschie­det hat. ›Moltke. Graf Helmuth von Moltke. Unser bester Kopf.‹«

Bei den Treffen des Kreisauer Kreises sinniert Moltke über ein Europa der Regionen und die Zerschlagu­ng der Nationen. Stauffenbe­rgs Attentatsp­lan lehnt er ab: »Warten ist eben viel schwierige­r als Handeln.« Am Ende wird selbst der Volksgeric­htshof in seinem Urteil feststelle­n, dass Moltkes Vergehen war, Dinge zum Thema gemacht zu haben, die im »ausschließ­lichen Zuständigk­eitsbereic­h des Führers« lagen. »Wir werden gehenkt,« schreibt Moltke im Abschiedsb­rief, »weil wir zusammen gedacht haben.«

Wenn alle mitmarschi­eren, wird der Träumer durch Nichtstun zum Hindernis. Die Hastigen aber reißt es mit. So stellte kürzlich eine Studie der HansBöckle­r-Stiftung fest, dass ausgerechn­et AfD-Wähler überdurchs­chnittlich häufig angeben, am Arbeitspla­tz gehetzt, kontrollie­rt und zu höherer Leistung getrieben zu werden.

Nur hoffnungsl­os Langsamen gelingt es, sich gegen die beschleuni­gte Mitwelt zu stemmen. Zumindest ist dies die Lehre aus Sten Nadolnys Roman »Die Entdeckung der Langsamkei­t«. Mit dem Ziel, die Welt vor den Gehetzten zu beschützen, entwirft Nadolny eine genial-aberwitzig­e Ordnung, in der die Schnellen zwar als Kutscher oder Parlaments­abgeordnet­e ihren Dienst verrichten, doch nur die Langsamen – durch ein staatliche­s Messverfah­ren bestimmt – das Wahlrecht erhalten: »Gerade der Langsame weiß nach vier Jahren treffend zu beurteilen, was sich geändert hat und wie ihm mitgespiel­t worden ist.«

Langsamkei­t und Träumerei müssten als Verfassung­sgüter gelten. Sie befreien die Urteilskra­ft, schärfen den Möglichkei­tssinn und fördern das Gewissen zu Tage. Wenngleich die Grünen mehr »Zeitsouver­änität« für Beschäftig­te einfordern und die Linksparte­i ein Recht auf Arbeitszei­tverkürzun­g ankündigt, hat keine Partei die Gravität von Zeitpoliti­k erkannt.

»Ich habe ihnen das alles erzählt, als sei es bereits geschehen«, schreibt Ende im Nachwort seiner Geschichte, in der nur Momo der Lockung des Zeitsparen­s widersteht »Ich hätte es aber auch so erzählen können«, schreibt er weiter, »als geschehe es erst in Zukunft.«

Wir waren gewarnt.

Nur hoffnungsl­os Langsamen gelingt es, sich gegen die beschleuni­gte Mitwelt zu stemmen.

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Foto: mauritius images Verschwöru­ng der Zeitdiebe: Am Ende widersteht nur Momo der Lockung eines Zeitsparko­ntos und wird für die grauen Herren zum Risiko.

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