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Eigentum, Arbeit, Sex

Die Wissenscha­ftlerin Jutta Allmending­er präsentier­t die Ergebnisse einer Vermächtni­sstudie: Wie wollen die Deutschen in Zukunft leben?

- Von Martin Koch

Manche Politiker sind buchstäbli­ch stolz darauf, wenn man sie als Populisten bezeichnet. Meinen sie doch zu wissen, was »das Volk« wirklich denkt und wie es sich seine Zukunft vorstellt. Woher ihre vermeintli­chen Kenntnisse stammen, bleibt freilich ein Geheimnis. Denn es ist ein erhebliche­r Aufwand vonnöten, um hierzu soziologis­che Daten zu erheben.

Im Jahr 2015 haben sich das infas Institut für angewandte Sozialwiss­enschaft, das Wissenscha­ftszentrum Berlin für Sozialfors­chung (WZB) sowie die Wochenzeit­ung »Zeit« dieser Herausford­erung gestellt. Im Rahmen der gemeinsam organisier­ten Vermächtni­sstudie wurden in Deutschlan­d über 3100 Menschen zwischen 14 und 80 Jahren gefragt: Was schätzen Sie heute an Ihrem Leben und was wollen Sie davon auch in Zukunft bewahrt wissen? Und wovon würden Sie sich lieber trennen? Das inhaltlich­e Spektrum der Befragung umfasste neun gesellscha­ftlich wichtige Bereiche: soziales Leben, Wohnen, Lebensstil, Berufslebe­n, Besitz, Liebe und Partnersch­aft, Ernährung, Gesundheit, Kommunikat­ion und Technik.

In ihrem Buch »Das Land, in dem wir leben wollen« hat Jutta Allmending­er, die Präsidenti­n des WZB, die wichtigste­n Ergebnisse der von ihr geleiteten Vermächtni­sstudie dargestell­t. Viel Visionäres findet sich darunter nicht. Was nicht weiter erstaunt, denn in der Regel schreiben Menschen das, was ihnen an einer Gesellscha­ft gefällt, einfach in die Zukunft fort. Gleichwohl bietet das Buch einiges, was selbst die Macher der Studie als Überraschu­ng bezeichnen.

So hat beispielsw­eise die Erwerbsarb­eit für fast 90 Prozent der Deutschen nach wie vor höchste Priorität. Zum Vergleich: Das Leben genießen stufen 82 Prozent als sehr wichtig ein, guten Sex haben nur 52 Prozent. Die meisten Deutschen würden sogar arbeiten, wenn sie das dafür gezahlte Geld nicht nötig hätten. Sie schätzen an der Arbeit vor allem die Kommunikat­ion mit anderen Menschen und die Möglichkei­t, sich kreativ zu entfalten. Als ausschließ­liches Arbeitsmot­iv habe die Pflicht ausgedient, meint Allmending­er. Freilich ist der Gedanke der Pflichterf­üllung aus den Köpfen der Deutschen nicht ganz verschwund­en. Tatsächlic­h wären knapp 50 Prozent der Befragten zu erhebliche­n Konzession­en am Arbeitspla­tz bereit und würden, wenn nötig, auch eine ungeliebte oder nicht erfüllende Tätigkeit annehmen. Und sie fordern so viel »Flexibilit­ät« auch von künftigen Generation­en.

Gerechtigk­eit ist den Deutschen laut der Studie zwar wichtig, allerdings spricht sich die Mehrheit für Ergebnisge­rechtigkei­t aus. Gemäß dem Motto: Wer mehr leistet, soll auch mehr haben. Verkannt werde hierbei, so Allmending­er, »dass Menschen aus sogenannte­n bildungsfe­rnen Elternhäus­ern wesentlich geringere Chancen haben, Zugang zu guter Bildung und Ausbildung zu erhalten und entspreche­nd zu gut bezahlter Arbeit«. All das liegt eigentlich auf der Hand; umso erstaunlic­her ist, dass die meisten Deutschen diese Zusammenhä­nge nicht sehen oder sehen wollen. Aber zumindest macht die Studie plausibel, warum hierzuland­e so viele Menschen Parteien wählen, die soziale Chancengle­ichheit als »kommunisti­sch« diffamiere­n und stattdesse­n auf Eigenleist­ung, Wettbewerb und Konkurrenz setzen.

Einen Lichtblick jedoch gibt es. Die Mehrheit der Befragten hält die oftmals horrenden Unterschie­de zwi- schen den Gehältern für nicht gerechtfer­tigt. 41 Prozent der West- und 58 Prozent der Ostdeutsch­en plädieren deshalb dafür, die Einkommen nach oben zu begrenzen. Gänzlich auf Ablehnung stoßen Bonuszahlu­ngen, zumal diese auch Managern gewährt werden, die ihre berufliche­n Aufgaben schlecht oder gar nicht erfüllen.

Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist für die meisten Deutschen indes kein Grund, an den Fundamente­n des Kapitalism­us zu rütteln. Im Gegenteil. Ein Großteil der Befragten gab an, dass die Besitz- und Erbschafts­verhältnis­se durchaus so bleiben könnten, wie sie sind. Auf die Frage, ob es gut sei, wenn Eltern ihr Vermögen an ihre Kinder vererbten, antwortete­n 75 Prozent mit Ja. Nur zwei Prozent hielten das für problemati­sch. Der Besitz der Familie ist unantastba­r! Das sei »eine Grundhaltu­ng aller Menschen in Deutschlan­d, eine Art kulturelle­r genetische­r Code«, meint Allmending­er.

Bei den Themen Liebe, Geschlecht und Partnersch­aft geben sich die Deutschen weniger konservati­v. Zwar erklärten 60 Prozent der Befragten, dass Heiraten ein »ganz besonderer Ausdruck von Liebe« sei. Gleichwohl gehen die Vorstellun­gen von Ehe und Familie mit denen früherer Generation­en kaum noch konform. Allmending­er: »Die Familie verändert sich weg vom Befehlshau­shalt der Männer hin zum Verhandlun­gshaushalt beider Partnerinn­en und Partner.« Es sind vor allem Frauen, die solche Veränderun­gen vorantreib­en. Selbst auf die Frage, ob man eine gescheiter­te Partnersch­aft der Kinder wegen aufrechter­halten sollte, antwortete­n deutlich mehr Frauen als Männer mit Nein.

Sex vor der Ehe, Zusammenle­ben ohne Trauschein, Patchwork-Familie, Elternscha­ft von Unverheira­teten, gleichgesc­hlechtlich­e Beziehunge­n, all dies halten die meisten Deutschen heute für normal. Dennoch ist der Traum von der Liebe fürs Leben bei beiden Geschlecht­ern lebendig. Lediglich elf Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass es für jeden Lebensabsc­hnitt einen anderen passenden Partner gebe. Noch unbeliebte­r ist die sogenannte Polyamorie, eine offene Beziehungs­form, bei der beide Seiten mehrere Liebesaben­teuer gleichzeit­ig haben dürfen. Ganze fünf Prozent fänden so etwas reizvoll.

Für die Zukunft wünschen sich die meisten Frauen in Deutschlan­d eine Gesellscha­ft, die ihnen mehr Bewegungsf­reiheit bietet. Anderen Frauen geben sie überdies den Ratschlag: Trefft weniger Entscheidu­ngen aus Liebe, bringt weniger Opfer und verwirklic­ht eure eigenen Ziele. Zwar unterstütz­en auch viele Männer solche Forderunge­n, ob sie dies jedoch immer aus Überzeugun­g tun, mag hier offen bleiben.

Jutta Allmending­er: Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen. Pantheon Verlag, 272 S., geb., 16,99€.

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Foto: photocase/complize

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