Wir Bürger als Sicherheitsrisiko
Der demokratische Verfassungsstaat, so hat es Jürgen Seifert formuliert, beruhe auf der Vorstellung eines unverrückbaren Vorrangs des Bürgers gegenüber denjenigen, die über den Staatsapparat verfügen. In der Wirklichkeit ist dieses Prinzip aber ständigen Versuchen ausgesetzt, durch Sicherheitspraktiken ausgehöhlt zu werden – es drohe eine »mehr oder minder vollständige Erfassung des Bürgers«, auch »die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung kann den Vorrang des Bürgers gegenüber der Verwaltung antasten und das Verhältnis von Bürger und Verwaltung umkehren«.
Geschrieben hat Seifert – Jurist, Politikwissenschaftler und Bürgerrechtler – dies 1977 zur Zeit des Deutschen Herbstes in einem Bändchen über Berufsverbote und Lauschangriff. Der Titel: »Wir Bürger als Sicherheitsrisiko«. Die Autoren trieb damals die Sorge vor der »Überreaktion des perfekten Sicherheitsstaates, die eben nicht mehr Schutz für die Bevölkerung, sondern Rechtfertigung für die Einschnürung demokratischer Rechte bringt«.
Dass die Sorgen von damals berechtigt waren, zeigt sich heute immer wieder – nicht zuletzt in der Entziehung von Akkreditierungen für Journalisten beim G20-Gipfel. Der Fall bezeugt auf mehreren Ebenen, wie weitgehend bereits der Zugriff staatlicher Stellen geraten ist.
Medienvertreter wurden als Sicherheitsrisiko hingestellt, zur Begründung wurden fragwürdige Datensammlungen herbeigezogen, über die Pressefreiheit entschieden so letzten Endes politischer Inlandsgeheimdienst und Polizeibehörde. Bis heute warten Betroffene und Öffentlichkeit auf eine akzeptable Erklärung, was auch eine Frage politischer Verantwortung ist. Und was an Namensverwechslungen und illegalen Personeneinträgen in staatliche Datensammlungen bekannt wurde, lässt einem die Haare zu Berge stehen.
Es geht dabei nicht darum, begründete Sicherheitsinteressen infrage zu stellen. Es geht aber darum, was hinter dem Rücken dieses Arguments geschieht – mit Auswir- kungen auf die grundrechtliche DNA der Republik. Als Seifert seine Kritik staatlicher Anwendung von Technologien der Überwachung und der politischen Markierung formulierte, stand das polizeiliche Rastern per Daten technisch gesehen noch am Anfang. Seither wurde seitens Politik und Behörden Jahr um Jahr nach neuen Möglichkeiten gerufen, gespeicherte Informationen zu sammeln, zu verknüpfen, anzuwenden.
Die Affäre um den Entzug der Akkreditierungen von Journalisten zeigt nun, wohin das führt: zu Willkür, zum Primat einer »Wahrheit«, die sich aus zum Teil rechtswidrig in staatlicher Hand liegender Informationen speist, die mal falsch sind und mal unter politischen Opportunitätsgründen Anwendung finden – gegen Grundrechte.
Der Fall der G20-Akkreditierungen lässt so all die oft gehörten sicherheitspolitischen Phrasen zerplatzen, laut denen man doch nichts zu befürchten habe, wenn man sich nicht zuschulden kommen hat lassen. Hat man eben doch.
Experten verweisen seit langem darauf, welche Gefahren in den Datensammlungen liegen: Es mangelt an wirksamen rechtlichen Hürden, in polizeiliche oder geheimdienstliche Dateien zu gelangen. Die Erfassung wird den Betroffenen meist gar nicht bekannt gemacht. Es fehlt an Kontrolle, der Datenschutz hat viel zu wenig Ressourcen. Wer gespeichert ist, bleibt oft ewig staatlich markiert.
Das Problem lässt sich dabei weder auf Schlamperei noch auf mangelnde Kontrolle reduzieren. Es geht um mehr, und es geht auch nicht nur um die in diesem Fall betroffenen Journalisten. In den Datensammlungen, auf deren Basis hier in die Pressefreiheit eingegriffen wurde, kann sich jeder wiederfinden – und muss dann womöglich mit der Suspendierung seiner Rechte rechnen. Es geht also um den eigentlich unverrückbaren Vorrang des Bürgers gegenüber denjenigen, die über den Staatsapparat verfügen.
Die Wirklichkeit sieht anders aus in einem Staat, der seine Bürger als Sicherheitsrisiko betrachtet. Oder mit anderen Worten: So stirbt Freiheit mit Sicherheit.