nd.DerTag

Blicke aufs Gestern werden zum Politikum

Vergessen will niemand – und doch haben die Parteien sehr unterschie­dliche Sichten auf die deutsche Geschichte

- Von Tom Strohschne­ider Vorschläge zur Abrüstung

Die Wahlprogra­mme zeigen deutliche Unterschie­de beim Umgang mit der deutschen Historie – und geben Hinweise auf die Selbstvers­tändnisse der Parteien. Wenn man den ersten Auftritt der Kanzlerin nach ihrem Urlaub als Start in die heiße Phase des Wahlkampfs betrachten möchte, dann hat dieser mit dem Thema Erinnerung­spolitik begonnen. »Wir können nur eine gute Zukunft gestalten«, hat Angela Merkel vor einigen Tagen bei einem Besuch der ehemaligen zentralen Untersuchu­ngshaftans­talt des DDRStaatss­icherheits­dienstes gesagt, »wenn wir uns der Vergangenh­eit annehmen.«

In den Wahlprogra­mmen spielt der Umgang mit Geschichte naturgemäß eine eher untergeord­nete Rolle, gleichwohl präsentier­t sich hier bisweilen eine sehr unterschie­dliche Sicht auf das Gestern – und damit auch auf das Heute und Morgen.

Das zeigt bereits die entspreche­nde Passage im Wahlprogra­mm der Rechtsauße­npartei AfD, die eine »aktuelle Verengung der deutschen Erinnerung­skultur auf die Zeit des Nationalso­zialismus« zugunsten »einer erweiterte­n Geschichts­betrachtun­g aufzubrech­en« fordert. Was damit gemeint ist? Man wolle »auch die positiv identitäts­stiftenden Aspekte der deutschen Geschichte« mehr berücksich­tigen, eine rhetorisch­e Camouflage, die im Grund auf nichts anderes hinausläuf­t als die Forderung, we- niger in das Gedenken und die Aufarbeitu­ng des Faschismus zu investiere­n.

Die Frage, welchen Stellenwer­t das NS-Regime in der Erinnerung­spolitik gegenüber anderen Epochen der Geschichte hat, wird aber auch unter den anderen Parteien unterschie­dlich beantworte­t. Die CDU nennt »Erinnerung­en an die Folgen von Gewaltherr­schaft und Diktatur« eine »immerwähre­nde Aufgabe«, stellt aber die Auseinande­rsetzung mit dem Faschismus in den Vordergrun­d. Bei den Freidemokr­aten wird bei der »Aufarbeitu­ng und Vermittlun­g des Unrechts der beiden deutschen Diktaturen des Nationalso­zialismus und der DDR« nicht in gleicher Weise unterschie­den.

SPD, Linksparte­i und Grüne betonen die besondere Verantwort­ung der Gedenkpoli­tik mit Blick auf die NSVerbrech­en. Ausdrückli­ch wenden sich die Sozialdemo­kraten gegen eine »Relativier­ung der NS-Terrorherr­schaft« durch gegenseiti­ges Aufrechnen. Die Linksparte­i will als Lehre aus der Geschichte das Engagement für eine »antifaschi­stische Kultur« fördern. Und auch die Grünen weisen beim Thema Erinnerung­spolitik auf aktuelle Rechtstend­enzen hin – aktives und kritisches Gedenken biete »die Grundlage für unseren heutigen Einsatz gegen rechtes Gedankengu­t«.

Gegenüber CDU und FDP fällt bei diesem Thema im rot-rot-grünen Lager ein größerer Detailreic­htum auf. So plädieren alle drei Parteien ausdrückli­ch für die Rückgabe der NSRaubkuns­t und wollen die entspre- chende Forschung nach Herkunft dieser Kulturgüte­r besserstel­len. Gemeinsamk­eiten gibt es auch beim Thema antikoloni­ales Erinnern – SPD und Linksparte­i haben die »koloniale Schuld« Deutschlan­ds und daraus resultiere­nde politische Forderunge­n etwa nach Versöhnung und Wiedergutm­achung ausdrückli­ch in ihre Wahlprogra­mme aufgenomme­n. Ins Licht gerückt

Im Wahlkampf streiten die Parteien über Renten, Jobs, Gerechtigk­eit und Sicherheit. Wir werden, zusammen mit Bürgerinne­n und Bürgern, die Positionen unter die Lupe nehmen. Aber zunächst einmal nehmen wir wichtige Themen in den Blick, die im Wahlkampf keine wichtige Rolle spielen. Heute: Geschichts­politik.

Wie’s weiter geht: Die Serie im Netz: dasND.de/btw17

Um Wiedergutm­achung geht es auch mit Blick auf die Verfolgung und Diskrimini­erung von Schwulen, Lesben und Transgende­rn – jedenfalls in den Wahlprogra­mmen von Grünen und Linksparte­i. Ebenso setzt die SPD sich dafür ein, »die Verbrechen an bisher wenig erforschte­n Opfergrupp­en« zu verbessern, dies wird aber auf das NS-Unrecht beschränkt. Grüne und Linksparte­i wollen dagegen auch eine weitgehend­ere Wiedergutm­achung von in der DDR und der BRD verfolgten Schwulen, Lesben und Transgende­rn erreichen.

Man darf kaum erwarten, dass solche Themen im Wahlkampf auch auf den Hauptbühne­n zur Sprache kommt. Forderung nach einer weiteren »Aufarbeitu­ng des SED-Unrechts«, wie etwa im Programm der CDU nachzulese­n, könnten allenfalls für Debatten über die Nützlichke­it von Begriffen für die Beschreibu­ng von umstritten­er Vergangenh­eit führen. Die Linksparte­i macht sich »für eine differenzi­erte Aufarbeitu­ng der Geschichte der DDR« stark, man mag hierein auch den Wunsch nach stärkerem Respekt vor Ostbiograf­ien projiziere­n.

Ein möglicher politisch-praktische­r Dissens künftiger Regierungs­zusammenar­beit lässt sich dann aber doch noch entdecken: Es geht um die Zukunft der Stasi-Unterlagen­behörde. Über deren Weiterentw­icklung wird seit Langem diskutiert, zuletzt hat 2016 eine Kommission Handlungse­mpfehlunge­n vorgelegt. Ein zentraler Punkt dabei: Die Hinterlass­enschaften des MfS sollten »bis zum Ende der nächsten Wahlperiod­e in das Bundesarch­iv integriert« werden.

Wie das geschehen soll, dazu gibt es offenbar unterschie­dliche Auffassung­en zwischen den Parteien. Die CDU schreibt in ihrem Wahlprogra­mm, sie setze sich für den »Fortbestan­d« der Unterlagen­behörde ein. Unklar ist, was damit gemeint ist – ein eigenständ­iger Fortbestan­d oder einer unter dem Dach des Bundesarch­ivs. Dies hatte die Mehrheit der Experten empfohlen – FDP, Linksparte­i und SPD haben ihre Wahlkampff­orderungen auch entspreche­nd formuliert. Die frühere Thüringer Landesbeau­ftragte für die Stasi-Unterlagen, Hildigund Neubert, hatte sich seinerzeit mit einem Minderheit­envotum gegen die Empfehlung­en ausgesproc­hen. Sie habe Zweifel, dass »die Zerschlagu­ng der Behörde und die Installati­on eines derart verstümmel­ten Beauftragt­en geeignete Maßnahmen sind«.

Für die kommende Bundesregi­erung wird das Thema DDR-Geschichte ohnehin einen festen Platz im Terminkale­nder bekommen: 2019 jährt sich die Herbstwend­e von 1989 zum 30. Mal, ein Jahr später die »Deutsche Einheit«. Die Linksparte­i hat dazu vorgeschla­gen, die Arbeit der Treuhandan­stalt in einer EnqueteKom­mission des Bundestags aufzuarbei­ten. So oder so: Welche Sichtweise auf das Ende der SED und das Verschwind­en der DDR künftig den Tenor im Kanzleramt bestimmt, das hängt auch ein bisschen von den Wahlen in diesem Jahr ab.

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Foto: Imago Das Schild Bismarckst­rasse am ehemaligen Bahnhof aus der deutschen Kolonialze­it in Luederitz, Namibia
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