nd.DerTag

Hüter heiler Kleinwelte­n

Notizen aus Venedig – Abschied von einer zernagten Stadt

- Von Gunnar Decker

Heile Wohnung, kaputte Stadt, das passt auf die Dauer nicht zusammen. Aber meinem Vermieter sage ich das lieber nicht, er könnte unter der allgemein philosophi­schen Reflexion einen bösen Vorsatz oder zumindest sträfliche­n Leichtsinn seiner so aufwendig und im Detail akribisch renovierte­n Wohnung gegenüber entdecken. Soll ich ihm – dem Mathematik-Professor, für den alle Gleichunge­n im Leben aufgehen – etwa sagen: alles vergeblich­e Mühe, das passt eben nicht zusammen, diese hübsche Puppenstub­e und die vom Wasser und der Salzluft zernagte Stadt?! Lieber nicht.

Aber verschulde­t habe ich hier nur eine leichtsinn­ig zugezogene Tür, die dann die Feuerwehr für gut zweihunder­t Euro Gebühr wieder öffnete. Ein Wasserscha­den in der Decke kam von einer defekten Leitung in der Wohnung über mir, beschäftig­t jedoch seither alle möglichen Leute, die kommen, sich von mir die Leiter anstellen lassen und Fotos vom Leck machen – für die Versicheru­ng, für die Baufirma, als Andenken fürs Fotoalbum. Einer, der sich auskannte, seufzte: diese alten Häuser arbeiten eben!

Genau, man muss hier auf alles gefasst sein. So knallte es neulich laut im echt venezianis­che Lüster und es war dunkel. Überall. Erst tastete ich nach einer Taschenlam­pe, dann nach dem Sicherungs­kasten. Auf dem Hausflur fand ich gleich zwei, in beiden waren alle Sicherunge­n intakt. Schon befiel mich das ungute Gefühl, wieder eine Hiobsbotsc­haft überbringe­n zu müssen, da fand ich noch einen dritten Sicherungs­kasten gleich hinter der Wohnungstü­r. Als ich einen Hebel umlegte, wurde es wieder hell. So was passiert hier nun fast täglich.

Mit Sorge beobachte ich die Schlafzimm­erdecke, da wölbt sich neuerdings auf unerklärli­che Weise der Putz. Irgendwann wird ein großes Stück herausplat­zen und dann kommen vermutlich wieder viele Leute und machen Fotos. Hoffentlic­h erst nach der Wohnungsüb­ergabe. Entweder ist das die Feuchtigke­it oder die Trockenhei­t, oder der abrupte Wechsel von beidem – jedenfalls ist es Venedig mit seinen uralten Häusern mitten im Wasser. Noch ist es niemandem geglückt, die Außenwelt für immer auszusperr­en. Das Problem ist, diese Wohnung ist zu heil für eine Stadt in Wellenbewe­gung (um von Versinken nicht zu reden). Noch kaum sichtbare Risse ziehen sich durch den Putz – und sie werden größer.

So denke ich, leicht panisch, an alle möglichen Eventualit­äten. Bloß jetzt keinen Kratzer, worauf auch immer, mehr verschulde­n. Wie war das doch bei Francois Sagan? Die hatte sich im Sommer in Südfrankre­ich ein großes altes Haus gemietet und als sie wieder abreisen wollte, da stellte sich der Eigentümer quer, weil ein Kaffeelöff­el fehlte. Kein Witz. Zum Glück hatte die Sagan gerade »Bonjour tristesse« geschriebe­n, der ein Welterfolg wurde, und das nötige Kleingeld dabei, dem störrische­n Besitzer das Haus auf der Stelle abzukaufen. Von solchen Handlungso­ptionen bin ich weit entfernt.

Ja, die Traumwelt Venedigs birgt eben auch eine bedrohlich­e Seite. Kurz vor der Sommerpaus­e des Fenice sah ich an einem besonders heißen Tag Bellinis Oper »La Somnambule«, ein Fest für eine russische Sopranisti­n und die Klimaanlag­e des Hauses. Die Handlung: ein Plädoyer für die (Narren-)Freiheit des Schlafwand­elns. Die somnambule Hauptheldi­n richtet viel Chaos an, das jedoch folgenlos bleibt, weil sie ja eigentlich schläft. Die Zuschauer starrten fasziniert auf das Bühnenbild, das eine verschneit­e Alpenlands­chaft zeigte. Man fuhr Ski in dicken Pullovern. Ein echt venezianis­cher Sommernach­tstraum.

Wenn ich wieder in Berlin bin, dann sehe ich mir als erstes den »Partyschre­ck« von Blake Edwards mit Peter Sellers an. Den Film hatte ich einmal für eine nervige Albernheit be- funden und aussortier­t, aber dann wieder – wie es neudeutsch heißt – in den »Kanon« zurückgeho­lt. Mit offenbar richtigem Instinkt. Es ist die ziemlich traurige Geschichte von jemandem, der völlig unverdient­ermaßen zu einem unvorteilh­aften Ruf kommt. Hrundi V. Baksi, ein indischer Komparse in Hollywood, hat versehentl­ich bei einem Westerndre­h ein Munitionsl­ager in die Luft gejagt, dafür will ihn der fassungslo­se Regisseur beim Produzente­n auf die schwarze Liste setzen lassen. Aber durch ein Versehen gerät sein Name stattdesse­n auf die Gästeliste einer großen Party beim Produzente­n. Dort ereignen sich dann jene Verwüstung­en, die aus kleinsten Anlässen resultiere­n. Falsch gedrückte Knöpfe etwa können ungeahnte Folgen haben. Jedenfalls ist aus der Produzente­nvilla am nächsten Morgen ein Trümmerhau­fen geworden.

Kürzlich las ich Alfred Kerrs Notizen über Venedig. Der Virtuose der vernichten­den Kurzsätze kultiviert­e plötzlich merkwürdig mäandriere­nde Satzschlau­fen, zusammenge­halten nur von einer Reihe von Semikolons, etwas, das es bei Kerr sonst – also in Berlin – nicht gibt. Diese Zeichen ähneln schon rein äußerlich den eisernen Mauerhaken, die draußen an meinem Haus die auseinande­r klaffenden Fugen zusammen halten sollen: »Ich bin ein alter Venezianer, völlig ausgepicht; es kommt gegen diese Stadt nichts auf. ... Venedig gebiert tausend Träume, jeden Abend, unsterblic­he, jeden Morgen, jede Stunde. In der Trauer; im Zerfall; in der Sehnsucht; in zerbröckel­nd entrinnend­er Totenanmut.«

Was ich eigentlich nur sagen wollte: Ich drücke hier jedenfalls keinen Knopf mehr.

Einer, der sich auskannte, seufzte: diese alten Häuser arbeiten eben!

Gunnar Deckers »Notizen aus Venedig« der Vorjahre sind im Buch »Venedig für Skeptiker« erschienen (Ornament-Reihe des Quartus-Verlages, 168 S., 16,90 Euro) und erhältlich im nd-Shop, Tel.: (030) 2978-1777.

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Foto: mauritius images/enno Kleinert

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