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Der indiskrete Charme der Bourgeoisi­e

Eröffnung der Ruhrtrienn­ale mit einer Inszenieru­ng von Debussys »Pelléas et Mélisande«

- Von Roberto Becker

Bei der Ruhrtrienn­ale sind die Spielorte immer schon ein Teil der Dramaturgi­e. Was Gerard Mortier vor 15 Jahren im Ruhrpott installier­te, hat sich für die Jahrhunder­thalle in Bochum (und all die anderen ehemaligen Kathedrale­n des Industriez­eitalters) ausgezahlt. Sie sind keine verfallend­en Ruinen mehr, sondern Orte für die Künste geworden. In diesem Jahr ist der Niederländ­er Johan Simons zum letzten Mal der Intendant für drei Jahre – der Schweizer Christoph Marthaler wird ihm nachfolgen, andere Schwerpunk­te setzen und sein Programm aus allen Genres darum bauen.

Zum Auftakt des aktuellen Jahrgangs haben der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowsk­i und der Stuttgarte­r Generalmus­ikdirektor Sylvain Cambreling Debussys »Pelléas et Mélisande« weniger auf die Bühne gebracht als in die Weite der Jahrhunder­thalle imaginiert. Die bietet den Charme einer zusätzlich­en Verfremdun­g, aber auch die Herausford­erung, mit den puren Entfernung­en und der Akustik so umzugehen, dass ein Gesamtkuns­twerk dabei herauskomm­t, das mit dem Produktion­sort Opernhaus konkurrier­en kann. Wenn hier das Verdämmern des Tageslicht­s durch die riesigen Fenster und das unüberhörb­are Trommeln des nächtliche­n Regens hinzukomme­n, dann fügt sich das in diesem Falle ganz wie von selbst ein.

Da der Regisseur und der Dirigent dieses Abends beide eine besonders enge Beziehung zu Mortier hatten, kommt noch eine sozusagen melancholi­sche Komponente hinzu, die an den Erfinder dieses Unternehme­ns erinnert, das Brücken zwischen industriel­ler Vergangenh­eit und postindust­rieller Gegenwart schlägt, beispielha­ft gewachsen ist und auch »sein« Publikum hat. Bei der politische­n Spitze des Bundesland­es jedenfalls steht zumindest die Eröffnung im Kalender – sogar in Jahren, in denen kein Wahlkampf herrscht.

Diesmal also, nach einer Festrede von Herta Müller, der französisc­he Gegenentwu­rf zu Wagners Tristan – Debussys Meisterwer­k. Dieser fließende Musikstrom mit den gelegentli­chen Ausbrüchen, dieses Wabern der Anspielung­en und des mitschwing­enden doppelten Bodens. Die Bochumer Symphonike­r sind an der Stirnseite der Halle vor einer Fensterfro­nt aufgebaut und von einer geschwunge­nen Treppe (die wie ein Artdéco-Rahmen wirkt) umgeben. Darüber ein Riesenbild­schirm für Ankündigun­gen der eigentlich­en Orte der Handlung und für Liveaufnah­men. Über einen zweiten Bildschirm über einem Bartresen (mit vollem Angebot) flimmern Szenen von Demos in Polen, aus Hitchcocks Klassiker »Die Vögel« oder aus einem Schlachtha­us. Das Ambiente dazwischen und die Kostüme der Familie des Königs Arkel (sonor und mitfühlend Franz-Josef Selig) ist großbürger­lich. Man marschiert auf, genießt, platziert sich wie beim Hauskonzer­t in der ersten Reihe vor den Musikern, nimmt an einer großen Tafel Platz, lässt vom reichlich vorhandene­n Personal servieren. Für die Contenance fühlt sich vor allem Geneviève (Sara Mingardo) zuständig. Dass Mélisande hier nicht reinpasst, ist vom ersten Augenblick an klar.

Der mit seinem Hipsterbar­t streng wirkende und sich als Supermacho gebärdende Golaud (Leigh Melrose) hatte dieses geheimnisv­oll unberechen­bare, zerbrechli­ch zähe Zauberwese­n nicht (wie eigentlich vorgesehen) verwundet im Wald, sondern zu- gedröhnt oder »nur« betrunken nachts an der Bar aufgegabel­t, begehrt, im Waschraum nebenan mit einem Quickie »in Besitz genommen«. Klar, dass sie dann allein schon mit einer Zigarette beim Essen provoziert und auf die Avancen des jungenhaft sensiblen Pelléas (Phillip Addis) eingeht, zumindest risikobere­it damit spielt.

Für die kanadische Ausnahmeso­pranitin Barbara Hannigan ist Mélisande (wie die Lulu) die Steilvorla­ge für ein Kabinettst­ück, in dem sie brillanten, lupenreine­n Gesang mit einer atemberaub­end genauen, bis ins Artistisch­e gehenden psychologi­schen Studie verbinden kann. Diese Sängerdars­tellerin ist für jeden Regisseur mit Ambition ein Glücksfall. Sie wird gleichsam von selbst zum Zentrum dieser spannenden und alles in allem gelungenen Hinterfrag­ung von Debussys Meisterwer­k am ungewöhnli­chen Ort.

Dieser fließende Musikstrom mit den gelegentli­chen Ausbrüchen, dieses Wabern der Anspielung­en und des mitschwing­enden doppelten Bodens.

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Foto: Ben van Duin/Ruhrtrienn­ale 2017 Mélisande (Barbara Hannigan)

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