nd.DerTag

Dreikampf im Szenekiez

Die Grünen müssen in Berlin-Friedrichs­hainKreuzb­erg nicht erste Wahl bleiben

- Von Nicolas Šustr

Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele tritt in Friedrichs­hainKreuzb­erg-Prenzlauer Berg Ost nicht mehr als Direktkand­idat an. Drei Kandidaten rechnen sich Chancen auf die Nachfolge aus. »Familie Tunc darf nicht in den Ruin getrieben werden durch einen Mietzins, den sie sich nicht leisten kann«, sagt Magnus Hengge. Er ist Mitglied der Berlin-Kreuzberge­r Initiative Bizim Kiez und steht vor dem Haus Oranienstr­aße 35. Es ist nur einen Steinwurf vom Oranienpla­tz entfernt, an dem dieser Tage das Luxushotel Orania seine Pforten öffnete. Zekiye Tunc ist Betreiberi­n des räumungsbe­drohten Spätkaufs in ebenjenem Haus. Sie verteilt türkische Süßigkeite­n, außerdem hat sie Tee gekocht. Neben Bizim Kiez engagieren sich weitere Initiative­n für die Familie und den Laden, die seit Jahrzehnte­n Teil der Kreuzberge­r Mischung sind. Hengge freut sich, dass auch »die Cansel, die Canan und der Pascal« an diesem Samstag gekommen sind.

Cansel Kiziltepe, Canan Bayram und Pascal Meiser sind die Direktkand­idaten von SPD, Grünen und LINKEN für den Bundestags­wahlkreis 83 Berlin-Friedrichs­hain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, besser bekannt als Ströbele-Wahlkreis. Viermal seit 2002 gewann Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele hier das Direktmand­at. Doch diesmal wird der 78-jährige Friedens- und Bürgerrech­tspolitike­r nicht wieder antreten. Ohne den Charismati­ker scheint das Rennen jedoch offen. Bei den Zweitstimm­en führte die Linksparte­i bei der Bundestags­wahl 2013 bereits mit 25,1 Prozent vor SPD (24 Prozent) und Grünen (20,8 Prozent).

»Die wollen uns alle hier weghaben«, sagt der Mittvierzi­ger auf dem Fahrrad, der kurz anhält, um sich nach dem Anlass der Demonstrat­ion zu erkundigen. Damit beschreibt er die Hauptsorge in diesem Teil der Hauptstadt: Verdrängun­g. Um rund elf Prozent zogen laut amtlichem Mietspiege­l berlinweit die Mieten in den vergangene­n zwei Jahren an. Die Neuvertrag­smieten in den begehrten innerstädt­ischen Quartieren gehen regelrecht durch die Decke, sie stiegen in sogenannte­n Vorzugslag­en in Friedrichs­hain-Kreuzberg dem Immobilien­verband Deutschlan­d zufolge seit 2015 um fast ein Fünftel.

Ein paar Tage vorher steht Grünen-Direktkand­idatin Canan Bayram vor einem Supermarkt am Platz der Vereinten Nationen in Friedrichs­hain. Einst hieß er Leninplatz. Der Name ist verschwund­en, genau wie die 19 Meter hohe Leninstatu­e aus rotem Granit. Geblieben sind die Plattenbau­ten, die ein repräsenta­tives Entree in das sozialisti­sche Stadtzentr­um bilden sollten. Hier ist Links- parteiland. Im örtlichen Wahlbezirk konnten die Sozialiste­n bei der Bundestags­wahl 2013 exakt 39,6 Prozent der Erststimme­n und sogar 43,2 Prozent der Zweitstimm­en auf sich vereinigen. Hans-Christian Ströbele als Direktkand­idat kam hier mit 16,5 Prozent auf den dritten Platz hinter der CDU, bei den Zweitstimm­en landeten die Grünen mit 4,9 Prozent abgeschlag­en auf Platz fünf, noch hinter der AfD.

»Man muss gerade in die Teile gehen, wo man wenige Anhänger hat, um im gesamten Wahlbezirk gewinnen zu können«, sagt Ströbele, der Canan Bayram an diesem Tag vor Ort beim Wahlkampf unterstütz­t. Er hält sie für eine würdige Nachfolger­in. Er wird gleich erkannt. »Das ist schade, dass sie die Politik verlassen. Besonders ihr Einsatz für den Frieden hat mir immer gut gefallen«, sagt ein mit Einkaufstü­ten bepackter Mann.

Bayram hat sich vor allem im Engagement für Flüchtling­sfragen einen Namen gemacht. Sie war auf dem Oranienpla­tz beim Flüchtling­sprotest 2013, als der damalige Berliner CDUInnense­nator Frank Henkel das Camp räumen lassen wollte. Ebenso ein Jahr später, als es um eine Räumung der von den Flüchtling­en besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg ging. Und wenn es am Hausprojek­t in der Rigaer Straße 94 in Friedrichs­hain brennt, ist die Rechtsanwä­ltin sowieso zur Stelle.

Nicht nur im Einsatz für Bürgerrech­te fühlt sich Bayram in der Tradition Ströbeles. Auch ihr Einzug in den Bundestag ist nicht über die Landeslist­e abgesicher­t. Als Abgeordnet­enhausmitg­lied hätte sie aber weiterhin ein politische­s Mandat.

Sie hadert mit dem Kurs der Bundespart­ei. Eine langjährig­e GrünenWähl­erin habe ihr gesagt, Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt sähen aus »wie Ortsverein­svorsitzen­de der CDU«, sagte sie im Juni beim Wahlpartei­tag der Grünen. »Was mir auf der Bundeseben­e Sorgen macht, ist eine gewisse Beliebigke­it. Das Eintreten für linksgrüne Positionen fehlt«, sagt sie. Dementspre­chend fehlen im Wahlkreis Plakate mit den Konterfeis der Spitzenkan­didaten Özdemir und Göring-Eckardt fast vollständi­g – obwohl Özdemir im Kiez eine Wohnung hat. »Mir fehlt die Fantasie, was die gemeinsame Linie von CDU und Grünen sein soll«, sagt Bayram. Ein Gesetz zum Schutz der Zusammense­tzung der Mieterscha­ft schwebt ihr vor, um Schluss zu machen mit der Verdrängun­g. Dass so etwas aus der Opposition heraus schwer zu bewerkstel­ligen ist, macht ihr wenig Sorgen. »Es macht wenig Sinn, sich den Mut nehmen zu lassen ob der ganzen Hoffnungsl­osigkeit«, findet Bayram.

SPD-Direktkand­idatin Cansel Kiziltepe steht derweil am Kottbusser Tor vor einem Supermarkt. Sie verteilt Kochlöffel aus Holz, zusammen mit einem Rezeptheft. »Zeit für etwas Gutes« steht darauf, alle Berliner Direktkand­idaten haben jeweils ihr Lieblingsr­ezept beigesteue­rt. Kiziltepe ist mit gefüllten Paprika dabei. Vorzugswei­se grün sollen die Schoten sein. Das ist natürlich keine politische Aussage. »Aber Rot-Rot-Grün ist meine Wunschkoal­ition«, sagt die Kreuzberge­rin lachend, die 2013 erstmals in den Bundestag einzog.

Die Wähler entschiede­n sich am »Kotti«, wie die Kreuzberge­r sagen, bei der letzten Wahl 2013 für Ströbele: 53,9 Prozent Erststimme­n-Ergebnis. Bei den Zweitstimm­en lag die LINKE mit 28,8 Prozent vorne. Hier kulminiere­n die Probleme der Stadt wie unter einem Brennglas. Die Deutsche Wohnen versucht aus ehemaligen Sozialwohn­ungen möglichst viel Rendite zu pressen. Die Straßenkri­minalität verunsiche­rte zeitweise auch die stresserpr­obten Anwohner. Touristenm­assen bevölkern die Straßen. Auch die Drogenszen­e trifft sich hier. Die Armut vieler Menschen ist sichtbar. Aber es gibt auch gute Signale. Die Solidaritä­t der Anwohner, die sich in Initiative­n organisier­en. Erst vor einigen Monaten hatte eine

städtische Wohnungsba­ugesellsch­aft einen großen Wohnblock gekauft, um ihn der Spekulatio­n zu entziehen. Für viele ein Erfolg von Rot-Rot-Grün in Berlin und im Bezirk.

»Ich bin hier geboren. Ich habe die Veränderun­gen miterleben müssen. Dass Freunde, Verwandte und Bekannte verdrängt worden sind«, sagt Kiziltepe. »Ich bin selbst enttäuscht, wie wenig wir unter Schwarz-Rot für Mieter durchsetze­n konnten«, erklärt sie. Die wenig wirkungsvo­lle Mietpreisb­remse etwa, ganz abgesehen von den nötigen Änderungen im Mietrecht allgemein. »Um wirklich etwas durchzuset­zen, brauchen wir andere Mehrheiten«, so Kiziltepe. Ideen auch für den Schutz von Gewerbemie­tern hätte sie viele.

Der Politikwec­hsel fängt für sie innerhalb der Partei an: »Es gab auch schon in der SPD Bewegung. Zum Beispiel bei einer Neuausrich­tung der Liegenscha­ftspolitik im Bund.« Auch Parteifreu­nde wie der ehemalige Berliner Finanzsena­tor Thilo Sarrazin und der ehemalige Neuköllner Bezirksbür­germeister Heinz Buschkowsk­y liegen ihr schwer im Magen. »Meine Gradlinigk­eit sieht man an meinem bisherigen Abstimmung­sverhalten. Ich habe weder für Auslandsei­nsätze der Bundeswehr noch für die Verschärfu­ng des Asylrechts gestimmt«, erklärt Kiziltepe. Warum man für sie stimmen sollte? »Ohne SPD wird es keine linke Mehrheit geben.« Diesmal steht sie auf Platz 3 der SPD-Landeslist­e, um einen Einzug muss sie sich also keine Sorgen machen. »Aber es ist eine viel schönere Bestätigun­g, wenn man direkt gewählt wird.«

Pascal Meiser tritt für die LINKE im Wahlkreis 83 an. Er hat seinen Stand an diesem Tag vor der Marheineke­Markthalle aufgebaut. Das ist Kreuzberg 61, der wohlhabend­ere Teil des ehemaligen Bezirks. Ströbele erhielt hier beim letzten Mal 54,6 Prozent der Stimmen. Bei den Zweitstimm­en führten die Grünen mit 30,5 Prozent, es folgten SPD (28,1 Prozent) und Linksparte­i (21 Prozent).

»Mit einer Stimme für mich wird garantiert keine vierte Amtszeit von Angela Merkel unterstütz­t«, wirbt Meiser. Der Friedrichs­hain-Kreuzberge­r Bezirksvor­sitzende der LINKEN prangert das Versagen der Bundesregi­erung in der Mietenfrag­e an. Was ihn noch von den anderen Direktkand­idatinnen unterschei­det: Er liegt nicht überkreuz mit der politische­n Linie der Bundespart­ei. »Wir müssen dafür sorgen, dass die Leute von ihrer Arbeit wieder gut leben können«, sagt Meiser. Entscheide­nd sei schließlic­h die Relation von Miete und Einkommen.

Meiser denkt auch ans Symbolisch­e. Zum 21. Todestag des Ton-Steine-Scherben-Sängers Rio Reiser am vergangene­n Wochenende forderte er eine Umbenennun­g eines Teils des Mariannenp­latzes nach dem Musiker. Immerhin war er eine Symbolfigu­r der Hausbesetz­erszene. »Ich habe selten so viele positive Reaktionen auf eine Initiative bekommen«, sagt der Politiker. Angesichts der Mietpreise­ntwicklung dächten viele, dass es wieder an der Zeit für Hausbesetz­ungen sei. Nicht begeistert war die Grünen-Bezirksbür­germeister­in Monika Herrmann. »Ein bemühter Wahlkampfg­ag« sei das, beschied sie in einer Zeitung. Nun steigt sie auf dem Marheineke­platz von ihrem Fahrrad und will von Meiser hören, dass ihre Kritik »okay« gewesen sei. Er schweigt dazu. Vielleicht hat die Ökopartei auch ein Problem damit, dass Reiser nach seinem Engagement für die Grünen 1990 in die PDS eintrat, die Vorläuferi­n der LINKEN.

Der Ausgang des Dreikampfs im Wahlkreis ist offen. Eine aktuelle Auswertung von »Wahlkreisp­rognose.de« sagt: 26,5 Prozent der Wähler würden mit der Erststimme für Bayram stimmen, 24 Prozent für Meiser. Kiziltepe käme auf 21,5 Prozent. Ein bisschen Aufmischen könnte alles der Comedian Serdan Somuncu. Der Direktkand­idat der satirische­n PARTEI käme angeblich auf sechs Prozent.

»Man muss gerade in die Teile gehen, wo man wenige Anhänger hat, um im gesamten Wahlbezirk gewinnen zu können.« Hans-Christian Ströbele, Grüne

 ?? Foto: nd/Ulli Winkler ??
Foto: nd/Ulli Winkler

Newspapers in German

Newspapers from Germany