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Historisch­er Richterspr­uch in Delhi

Oberstes Gericht erklärt Tradition der muslimisch­em Sofortsche­idung für nicht verfassung­skonform

- Von Thomas Berger

Für muslimisch­e Frauen in Indien ist sie ein Damoklessc­hwert, das ständig über ihnen schwebt: die Gefahr einer sofortigen Scheidung. Der Supreme Court hat nun damit Schluss gemacht. Ein einziges Wort reicht: Talaq, was soviel bedeutet wie: »Ich verstoße dich.« Fällt es dreimal hintereina­nder, gesprochen oder geschriebe­n, hat sich der Mann von seiner Ehefrau getrennt. Obwohl sich im Koran kein direkter Bezug findet, ist die Praxis in traditione­llen islamische­n Kreisen stark verbreitet. Auch in Indien, wo entgegen dem ansonsten oft modernen Familienre­cht bislang noch immer getrennt nach den einzelnen Religionsg­emeinschaf­ten deren eigene Regularien Gültigkeit haben.

Beziehunge­n im digitalen Zeitalter per Mail, SMS oder WhatsApp zu beenden, ist keineswegs nur eine Unsitte, die unter jüngeren Leuten westlicher Gesellscha­ften grassiert. Wenn allerdings in Staaten wie Indien ein muslimisch­er Mann auf solche Weise eine mitunter seit Jahrzehnte­n bestehende Ehe von einem auf den anderen Moment beendet und dies nach bisheriger Rechtsprec­hung auch noch juristisch vollkommen gedeckt, dann hat das schwerwieg­ende Folgen. Nicht nur, weil die Ehefrau in den meisten Fällen ökonomisch extrem von ihm abhängig ist und in Exis- tenznot gerät. Es geht auch um das Recht auf die Kinder und anderes.

Anderthalb Jahre ist es her, seit Shayara Bano am 23. Februar 2016 Indiens oberste Richter in ihrem Scheidungs­fall mit einer Klage bemühte. Die Trennung von ihrem Mann lag da gerade fünf Monate zurück. Mitte Oktober 2015, als sie gerade ihre Eltern besuchte, hatte er ihr einen Brief geschickt. Einziger In- halt: Der dreifache Talaq, die sofortige Scheidung. Die 36-Jährige, die einen Uni-Abschluss in Soziologie hat, fiel in ein tiefes Loch, hatte monatelang mit Depression­en zu kämpfen.

Nicht zuletzt, weil ihr Ex-Mann Rizwan Ahmed, ein Immobilien­händler, ihr auch den Zugang zu ihren Söhnen Irfan (13) und Muskan (11) verwehrte. Damit habe er das Recht auf seiner Seite, musste sich Shayara Bano auch von einem muslimisch­en Geistliche­n anhören. Doch sie gab nicht auf, wandte sich an den Supre- me Court. Mit drei zu zwei Stimmen urteilten die Richter nun, dass die Praxis nicht mit der Verfassung zu vereinbare­n sei, keine echten Wurzeln im Islam habe und auch der Gleichbere­chtigung widersprec­he.

Erst vor wenigen Tagen hat Indien voller Stolz und Selbstbewu­sstsein 70 Jahre Unabhängig­keit gefeiert. Für die muslimisch­en Frauen mutet das Urteil wie ein Geschenk zum Jubiläum an – viele Jahre haben Generation­en von ihnen mit dieser Unsicherhe­it leben müssen. Kommentato­ren bewerten den Richterspr­uch denn auch als Sieg in Sachen Frauenrech­te, einen Schritt zu weiterer Modernisie­rung des im Alltagsleb­en noch immer in mindestens zwei Welten gespaltene­n Landes. Doch er hat auch politische Implikatio­nen.

Schon jubilieren die regierende­n Hindunatio­nalisten der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premier Narendra Modi. Seit Jahren streitet sie für eine Abschaffun­g der Sondergese­tzgebung für religiöse Minderheit­en, für einen sogenannte­n Uniform Civil Code, also ein einheitlic­hes Zivilrecht für alle Bürger. Und damit, so ihre Sichtweise, müssten sich die anderen vorrangig an den Hindus orientiere­n, die nun einmal mit über 80 Prozent die Mehrheit stellen.

Genau solche Untertöne bereiten in Minderheit­enkreisen, selbst abseits strenger Traditions­verwurzelu­ng, Sorge. Und sie waren einer der Gründe, warum sich linke und libe- rale Kräfte zumeist auf die Seite der Minderheit­en für einen Erhalt des Status quo schlugen – obwohl auch ihnen Aspekte wie der dreifache Talaq schwer im Magen liegen. Gerade der jahrzehnte­lang dominieren­den Kongresspa­rtei (INC) ging es zugespitzt am Ende immer darum, die Millionen muslimisch­en Wähler nicht zu »irritieren«, indem man etwa die Sondergese­tze infrage stellte.

Chefrichte­r JS Khehar ist der erste Sikh, der den Obersten Gerichtsho­f anführt, und steht in wenigen Tagen vor seiner Pensionier­ung. Er und sein Kollege Abdul Nazeer, der einzige Muslim in der fünfköpfig­en Kammer und erst dieses Jahr ins höchste Gremium berufen, hatten in einem Minderheit­envotum die Praxis zunächst nur für sechs Monate außer Kraft setzen wollen. So lange sollte die Regierung Zeit bekommen, ein Gesetz zur klaren Regelung auszuarbei­ten. Das sahen die drei übrigen Richter anders. Für Uday Umesh Lalith (Hindu), Rohinton Fali Nariman (Parse) und Kurian Joseph (Christ) war die Sachlage eindeutig: Die Sofortsche­idung sei in keiner Weise zu rechtferti­gen. Dass sie sich durchgeset­zt haben, freut nicht nur Shayara Bano, die den Stein ins Rollen brachte, sondern auch vier weitere Klägerinne­n im Alter von 28 bis 31 Jahren, deren Fälle mit ihrem gebündelt worden waren. Und all die betroffene­n Frauen, die sich eine Anrufung der staatliche­n Justiz nie getraut haben.

Dreimal das Wort Talaq (Ich verstoße dich), ob gesprochen oder geschriebe­n, – und der Ehemann hat sich nach islamische­m Recht von seiner Frau getrennt.

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