Stiefkind der Onkologie
Viele Krebspatienten haben psychologische Hilfe und Beratung bitter nötig – an Angeboten mangelt es aber
Mehr als die Hälfte aller Krebspatienten wird heute schon geheilt. Aber auch die Überlebenden leiden unter psychischen Belastungen – professionelle Hilfe wollen und bekommen nur wenige. Viel Geld wird in Deutschland für jeden einzelnen Krebspatienten ausgegeben, der größte Teil für »harte« Therapien – Medikamente, Bestrahlung, Operationen. Die Kosten für moderne Chemo- oder Immuntherapeutika gehen schnell in die zehntausende Euro pro Fall. Bislang noch zu wenig Beachtung erhält die psychische Stärkung und Unterstützung der Patienten, die in der Regel vor einer existenziellen Herausforderung stehen. Die Bewältigung von Ängsten oder der Umgang mit den körperlichen Veränderungen gehören in das Feld der Psychoonkologie. Geschulte Therapeuten sollen dabei helfen, mit der Krankheit zu leben, sie bestenfalls zu überwinden und die Kräfte der Patienten zu stärken.
Möglich ist das auf viele Arten, mit Entspannungsübungen und Gesprächen, allein oder mit dem Partner, in Gruppen oder sogar mit der Familie. Auf Kuren kommen dann Angebote von künstlerischen Therapien hinzu oder Atem- und Körperübungen, wie sie auch andere Genesende nutzen können. Soweit das Ideal. In der Praxis funktioniert das bisher nur für einen geringen Teil der Patienten. Das hat verschiedene Gründe, die in der vergangenen Woche vom Weltkongress der Psychoonkologen in Berlin thematisiert wurden.
»Krebs ist eine fantastische Gelegenheit, das Gesicht direkt an die Fensterscheibe der eigenen Sterblichkeit zu drücken.« Dies schrieb der US-amerikanische Dichter Jason Shinder, der 2008 im Alter von 52 Jahren an einem Non-Hodgkin-Lymphom und Leukämie starb. Die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit, mit dem vielleicht nah bevorstehenden Tod ist ein gravierender Einschnitt für alle, die eine Krebsdiagnose erhalten. Die Herausforderungen sind damit noch nicht beendet. Die Unsicherheit über den Krankheitsverlauf kommt hinzu. Der Körper wird hinfällig, durch bestimmte Therapien möglicherweise noch zusätzlich geschwächt und verändert. Der Alltag muss zwangsläufig angepasst werden, Handlungsoptionen schwinden. Soziale Rollen – zum Beispiel in der Familie oder in Sport und Beruf können weniger oder gar nicht mehr ausgeübt werden. Wie auch bei anderen schweren Krankheiten ist man plötzlich abhängig von anderen. Hinzu kommt, dass über viele dieser Probleme nicht offen gesprochen wird. Und schließlich fragen sich nicht wenige Be- troffene: Warum gerade ich? Was habe ich falsch gemacht?
Es ist nur zu verständlich, wenn sich Menschen angesichts einer solchen geballten Ladung von Problemen belastet fühlen und Hilfe suchen. Tatsächlich tun das aber nicht alle. Nach einer epidemiologischen Studie mit mehr als 4000 Patienten, die Hermann Faller von der Universität Würzburg auf dem Berliner Kongress vorstellte, fühlte sich zwar die Hälfte der Befragten von der Krebsdiagnose stark belastet, aber nur ein Drittel wünschte psychosoziale Unterstützung. Ein Drittel der Befragten hatte im Zusammenhang mit der Krebserkrankung eine psychische Störung entwickelt, etwa eine Depression oder eine Angststörung, wünschte jedoch nicht immer Hilfe. Nur ein Viertel der Befragten nutzte am Ende eine Form psychoonkologischer Unterstützung.
Warum nimmt aber ein so großer Teil der Patienten die Angebote nicht an? Grundsätzlich ist es eine Frage der eigenen Autonomie – auch Schwerstkranker – sich für oder gegen Therapien und Hilfe zu entscheiden. Niemand muss die psychotherapeutischen Möglichkeiten nutzen. Gründe der Ablehnung gibt es viele. Die eigene Familie und das nähere Umfeld bieten vielleicht ausreichend Unter- stützung. Genannt wurden aber auch andere Gründe, darunter von 15 Prozent der Befragten fehlende Information. Eine fast ebenso große Gruppe wusste gar nicht, »dass es das gibt«. Für andere war es zu früh. Hinzu kommen jedoch auch Scham und Angst vor einer Stigmatisierung oder die Verleugnung des eigenen Problems.
Das gesamte Spektrum der Ablehnungsgründe wirft aber auch ein Schlaglicht auf die Versorgungsrealität. Die Antworten zeigen, dass eine psychoonkologische Unterstützung durchaus noch nicht normal ist. Zum einen hat das seine Ursache in Abrechnungsproblemen. Im stationären Bereich wird die Erstversorgung durch spezielle Therapeuten nicht in den bestehenden Abrechnungspauschalen abgebildet. Nur in zertifizierten Organkrebs- und onkologischen Zentren gibt es die Verpflichtung zu psychoonkologischen Angeboten nach strengen Kriterien. Dazu gehört auch ein Screening auf einen solchen Therapiebedarf. Jedoch berichteten selbst Vertreter dieser Zentren auf dem Berliner Kongress, dass sie nicht immer entsprechende Therapeuten zur Verfügung haben. In ganz Deutschland arbeiten nur 400 Psychoonkologen. Ebenso ungünstig sieht es im ambulanten Bereich aus. Niedergelassene Psychotherapeuten können nur die im Diagnoseregister ICD 10 verzeichneten psychischen Krankheiten abrechnen, aber nicht weniger schwerwiegende Probleme, wie der bei vielen Krebspatienten erhöhte negative Stress. Peter Herrschbach, Leiter des Comprehensive Cancer Center in München, forderte in Berlin ein »differenziertes und verstehbares Leistungsangebot«, auch für jene Fälle, in denen der Behandlungsbedarf erst in der Nachsorge entsteht.
Die bisherigen Studien zur Psychoonkologie zeigen, dass es sich hier noch um ein medizinisches Stiefkind handelt. Man weiß zwar, dass Paarinterventionen, künstlerische Therapien und Psychoedukation helfen. Das ist Konsens unter Experten, aber ausreichend belastbare Studiendaten liegen dazu nicht vor. Auch sind die Hälfte der Teilnehmer bisheriger Studien zur psychologischen Unterstützung Patientinnen mit einem Mammakarzinom. Ob andere Krebsarten auch einen anderen Therapiebedarf hervorbringen, ob die Patienten auf verschiedene Methoden anders ansprechen, weiß man noch nicht. In dieser Frage könnte ein Großprojekt Antworten bringen, mit dem in den nächsten vier Jahren in NordrheinWestfalen der psychoonkologische Bedarf festgestellt werden soll, und zwar sektorenübergreifend für den ambulanten und den klinischen Bereich. Die Bundesregierung unterstützt das Projekt an der Kölner Universitätsklinik mit 9,1 Millionen Euro.
Den 18 Krebsberatungsstellen in Deutschland, die auch psychoonkologische Angebote machen, wird erst für die kommenden Legislaturperiode eine geregelte finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt. Der Nationalen Krebsplan von 2008 formuliert das Ziel, allen Betroffenen bei Bedarf eine angemessene psychoonkologische Versorgung zur Verfügung zu stellen. Die genannten praktischen Probleme sind allein mit solchen Absichtserklärungen noch nicht gelöst.
»Krebs ist eine fantastische Gelegenheit, das Gesicht direkt an die Fensterscheibe der eigenen Sterblichkeit zu drücken.« Jason Shinder, US-amerikanischer Dichter