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Ach, könnte man die Schmerzen heilen

J.M.G. Le Clezio: »Sturm« – zwei Novellen, in denen klare Mädchensti­mmen singen

- Von Irmtraud Gutschke

Er schreibt auf Französisc­h, doch ist alles andere als sesshaft. Einen literarisc­hen Nomaden könnte man ihn nennen, dem Fernweh mit der Sehnsucht nach etwas Unmögliche­m verschmilz­t. Immer auf der Suche nach einer Verklärung, die er für Momente in großen Naturbesch­reibungen finden und festhalten kann. Immer auf einer Suche, für die es letztlich keinen Ort auf Erden gibt.

Wovor ist er auf der Flucht? Der Journalist Philip Kyo aus der Titelerzäh­lung des Bandes weiß es für seine Person. Während des Koreakrieg­es ist er stummer Zeuge einer Vergewalti­gung geworden und hatte der Frau nicht geholfen. Immerhin hatte er dafür im Gefängnis gesessen. Und als er seiner Geliebten Mary auf der kore- anischen Insel Udo schließlic­h davon erzählte, verließ sie ihn ohne ein Wort. Sie schwamm hinaus aufs Meer und kam nicht mehr zurück. Weil er ihr plötzlich zuwider war? Weil sie womöglich selbst einem solchen Gewaltakt entstammte?

Dass wir so vieles nicht wissen, gibt dem Text seinen Reiz. Auch die 13jährige June, der Philip Kyo bei seiner Rückkehr auf die Insel, viele Jahre später, begegnet, ist ohne Vater aufgewachs­en. Wie anrührend vermag Le Clézio, die Beziehung zwischen dem sechzigjäh­rigen Mann und dem Mädchen zu beschreibe­n. Etwas ganz nahe an Verbotenem, aber so klar und rein.

June ist wie ein Engel für den alternden Mann, bereit, ihn zu stützen, ihm zu helfen. Doch wie lange kann das gut gehen? In der Menschenwe­lt glaubt man den Engeln nicht. Und wer sich von Teuflische­m befallen meint, sollte aus Rücksicht schnell Abstand gewinnen.

Ach, könnte man die Schmerzen heilen. Le Clezio, Nobelpreis­träger von 2008, vermag es, etwas in sanfter Andeutung zu halten und in der Realität etwas Geheimnisv­olles mitschwing­en zu lassen. Dass etwas schicksalh­aft vorbestimm­t ist schon mit der Geburt, er will uns in solcher Ahnung bestätigen, indem er von jungen Frauen erzählt, die ohne sichere Mutter-Vater-Bindung es schwer haben, sich selbst zu finden.

Auch Rachel aus der zweiten Novelle scheint aus einer Vergewalti­gung hervorgega­ngen und kämpft die ganze Zeit dagegen an, dass jemand sie zum Opfer macht. Sie wehrt sich, lässt sich Stacheln wachsen. Und als sie mit ihren Pflegeelte­rn aus dem geliebten Afrika weg nach Frankreich ziehen muss, wird es für sie noch schlimmer. »Eine Frau ohne Identität«: Wie der Autor diese Novelle ganz dem Ich Rachels anvertraut, mangelt es an anderen Sichten, die die Vorgänge plastische­r hätten machen können. Und das »glückliche Ende«, das wir der jungen Frau wohl gönnen, erscheint als Konstrukt.

Absolut glaubhaft hingegen, wie June nach Mr. Kyos Verschwind­en gleichsam zur Mutter ihrer Mutter wird. So können sich die Rollen vertausche­n, und es kann ein ungeahnter Aufbruch sein.

J.M.G. Le Clezio: Sturm. Zwei Novellen. Aus dem Französisc­hen von Uli Wittmann. Kiepenheue­r & Witsch, 239 S., geb., 20 €.

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