nd.DerTag

Zwischen den Kulturen

- Von Mona Grosche

Nesthäkche­n

Bao Vi (auf Deutsch: Kleine Kostbarkei­t) erlebt als einzige Tochter nach drei Söhnen eine schöne Kindheit in Saigon. Doch die Geborgenhe­it in ihrer wohlhabend­en Orchideenz­üchterfami­lie endet jäh mit dem Krieg. Mit ihrer Mutter und den Brüdern muss sie fliehen. Der Vater, den die Mutter vergöttert­e und ihm seine zahlreiche­n Geliebten verzieh, bleibt in Vietnam zurück.

Bao Vi hat sich in kurzer Zeit auf ein völlig neues Leben einzustell­en. Was zu Hause als weibliche Tugend galt, nämlich möglichst unsichtbar zu sein, ist im malaysisch­en Flüchtling­slager und später in Kanada nicht hilfreich. Bao Vi muss selbstbewu­sst und offen werden, um erfolgreic­h zu sein. Doch ihre Orientieru­ng am westlichen Lebensstil und ihr Versuch, sich selbst zu verwirklic­hen, finden bei der Mutter Unverständ­nis. Als ihre Beziehung zu einem Vietnamese­n mit der Auflösung der Verlobung endet, ist das nicht nur ein persönlich­es, sondern auch ein familiäres Desaster.

Um dem zu entkommen, kehrt Bao Vi als Mitarbeite­rin eines Hilfsproje­kts nach Vietnam zurück. Zwar ist ihr das Land fremd geworden, doch es birgt gleich zwei Entdeckung­en für sie: Zum einen erfährt sie die Hintergrün­de, warum ihr Vater damals nicht mit auf das Boot kam, und zum anderen lernt sie einen Mann kennen, der ihr zeigt, dass erfüllte Liebe nicht mit Selbstaufg­abe einhergehe­n muss, sondern auch beinhaltet, sich selbst zu lieben.

Ebenso wie in ihren früheren Romanen »Der Klang der Fremde« und »Der Geschmack der Sehnsucht« hat die kanadische Autorin auch hier jeden Satz, jedes Wort mit Bedacht gewählt, um in eindringli­chen Szenen die Erinnerung­en und die Gefühle der Protagonis­tin zum Leben zu erwecken. Mit sanften, aber kraftvolle­n Bildern entspinnt sich der Roman zu einem kleinen Kunstwerk, in dem die Autorin nie die Fäden aus der Hand lässt, sondern diese stets wieder kunstvoll zusammenfü­hrt. Ebenso unprätenti­öse wie eindringli­che Metaphern, etwa die roten Stiefel, die Bao Vi die ersten Schritte in der neuen Heimat erleichter­n, zeigen die meisterlic­he Beherrschu­ng eines reduzierte­n Stils, der neben scharfer Beobachtun­gsgabe und viel Empathie für die Protagonis­ten eine gute Prise Humor enthält.

Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe. Aus dem Französisc­hen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. Kunstmann, 144 S., geb., 18 €.

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