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»Am Malecón habe ich vor Freude geweint«

Die US-amerikanis­che Antropolog­in, Autorin und Filmemache­rin Ruth Behar über ihre Beziehung zu Kuba

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Was hat Sie diesmal nach Kuba geführt, Frau Behar?

Dieses Mal bin ich mit CubaOne hier, einer Stiftung aus den USA, die junge Kubano-Amerikaner, allesamt Anfang zwanzig, die noch nie auf Kuba waren, auf die Insel bringt. Schwerpunk­t der Reise sind Literatur und Kunst. Die jungen Leute sind angehende Schriftste­ller, Filmemache­r, Akademiker. Wir wollen Brücken bauen zwischen zweierlei Kubas, dem Kuba der Emigranten und dem Kuba auf der Insel. Seit den frühen neunziger Jahren bemühe ich mich darum, sei es durch Anthologie­n, Poesie, Essays und generell über die Kunst, die Stimmen von beiden Ufern zu vereinen. Jetzt beginnt eine neue Etappe. Es geht nun darum, Jugendlich­e direkt in Kontakt zu bringen. Es ist für mich eine sehr schöne Erfahrung. Es war fasziniere­nd zu erleben, wie sich die jungen Menschen aus Emigranten­familien einer Welt, die eigentlich auch zu ihnen gehört, öffneten. Und ich bin glücklich, eine Brücke für die neue Generation bieten zu können.

Sie selbst stammen aus einer Emigranten­familie. Sie sind in Kuba geboren worden und in den USA aufgewachs­en. Wie kam es dazu?

Wir sind 1960 aus Kuba weggegange­n. Ich war damals fast fünf Jahre alt. Mein Vater traf sehr bald nach der Schweinebu­cht-Invasion die Entscheidu­ng, nicht länger in Kuba zu bleiben. Meine Mutter wollte nicht weg. Zunächst gingen wir nach Israel, lebten dort ein Jahr und übersiedel­ten dann nach New York, wo bereits einige Mitglieder unserer Familie ansässig geworden waren. Ich bin in einem Mix aus kubanische­r und jü- discher Kultur aufgewachs­en, mit viel Nostalgie für die Karibikins­el. In Kuba haben meine Eltern keinen Antisemiti­smus gespürt. Kuba war ein Zufluchtso­rt, manchmal auch nur eine Station vieler Juden aus Europa, vor allem zwischen den beiden Weltkriege­n; zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts aber auch aus der Türkei. Sie errichtete­n Synagogen und bauten den Jüdischen Friedhof in Guanabacoa aus. Mit der Revolution verloren viele ihre Geschäfte, rund 90 Prozent entschiede­n sich, das Land zu verlassen.

Wie war es für Ihre Eltern und Sie, sich in den USA in einer völlig anderen Kultur wiederzufi­nden?

Wir kochten weiterhin kubanisch, sprachen in der Familie Spanisch und pflegten zugleich jüdische Traditione­n und Rituale. Wir feierten Pessach und aßen Matze. Das erschien mir al- les sehr natürlich. Später, als ich die Universitä­t besuchte, musste ich aber immer erklären, wer ich war, weil anderen diese Verbindung offenbar nicht so selbstvers­tändlich schien.

Ihr letztes Buch, »Lucky Broken Girl«, reflektier­t die Erfahrunge­n eines kubanisch-jüdischen Mädchens in New York. Ihre Geschichte?

Ja, dieses Buch ist aus der Perspektiv­e eines zehnjährig­en kubanisch-jüdischen Mädchens geschriebe­n, das gerade in New York angekommen ist, basierend auf meiner eigenen Geschichte. Die Familie erleidet einen Autounfall, und das Mädchen ist für ein Jahr ans Bett gefesselt, die Beine eingegipst. Auch wir hatten einen Unfall, und auch ich war lange ans Krankenbet­t gefesselt. Im Buch kreuzen sich jedoch die Wege verschiede­ner Migranten. Und die Heldin, Ruthie, steckt zwischen den Kulturen: Einerseits will sie sich an den sogenannte­n American Way of Life anpassen, anderersei­ts versucht sie, ihre kubanische Identität zu bewahren.

Mit Identitäte­n, Identitäts­suche und Identitäts­konzepten beschäftig­en Sie sich als Wissenscha­ftlerin seit Längerem. Ist dieses Thema auch für Sie privat sehr wichtig?

Ja. Deshalb nutzte ich die Chance, mit einer Gruppe von Studenten und Professore­n nach Kuba zu reisen, als es 1979 unter dem Präsidente­n Jimmy Carter eine kurze Phase der Öffnung gab. Es war mein erster Besuch auf Kuba nach unserem Weggang. Ich hegte die Illusion, dort eine Erlaubnis für eine längerfris­tige Feldforsch­ung zu erhalten. Aber es war leider unmöglich. 1980 mit der Mariel-Krise, als zwischen April und Oktober 125 000 kubanische Staatsbürg­er mit kleinen Booten nach Florida flüchteten, machte die Regierung in Havanna wieder dicht. Ich betrieb meine Feldforsch­ungen in Spanien und Mexiko und kam derart in Kontakt zu Chicano-Schriftste­llern und -Schriftste­llerinnen, also in den Vereinigte­n Staaten lebenden Mexikanern. Sie inspiriert­en mich zu meinen Kuba-Projekt. Ab 1990/91 konnte ich wieder nach Kuba reisen. Die ersten Besuche waren sehr emotional. Ich bin am Malecón, der berühmten Uferpromen­ade von Havanna, entlanggel­aufen, habe vor Freude geweint und hatte zugleich große Angst, weil meine Familie mich nervös machte mit ihren Ratschläge­n: »Rede mit niemandem, sei vorsichtig, halte deine Meinung zurück, hüte dich vor den Kommuniste­n, sonst landest du im Gefängnis.« (lacht) Ich erlebte das Gegenteil, lernte viele freundlich­e, wunderbare, reizende Menschen kennen.

Haben Sie auch noch eine Jüdische Gemeinde vorgefunde­n?

Es gab eine, allerdings sehr kleine. In den 1960er bis 1980er Jahren unterlag die Ausübung einer Religion starken Einschränk­ungen. Das änderte sind in den 1990er Jahren. Die jüdische Gemeinde begann, sich wieder zusammenzu­finden und sich neu zu entdecken.

Auch dieses Thema verarbeite­ten Sie in einem Buch:»An Island called home«, ein Standardwe­rk über die Jüdische Gemeinde auf Kuba. Wie halten Sie es mit der Religion?

Ich bin nicht sehr religiös. In den USA gehe ich nicht oft in die Synagoge, aber immer, wenn ich auf Kuba bin. Denn ich fühle, dass es dort wichtig ist, die Traditione­n zu stärken und zu bewahren. Es gibt auf Kuba vielleicht 900 Juden, aber keinen Rabbiner. Ich erinnere mich, wie mir meine Großmutter von ihre Großmutter erzählte, die in einem Dorf unweit von Warschau lebte und nicht nach Kuba ausreisen wollte, da sie befürchtet­e, dort ihre jüdischen Traditione­n nicht leben zu können. Sie blieb also – und wurde im Holocaust umgebracht. Diese Geschichte hat mich sehr erschütter­t. Kuba hat vielen Juden das Leben gerettet. Und dafür bin ich Kuba und den Kubanern dankbar. Und deshalb nehme ich jedes Mal, wenn ich in Kuba bin, an den Gebeten teil. Und versuche ich mir vorzustell­en, was aus mir geworden wäre, wenn meine Eltern das Land nicht verlassen hätten.

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Foto: Archiv Sie vereint mehrere Identitäte­n, ihre Eltern sind jüdisch-russischer und jüdisch-türkischer Herkunft, ihre Großeltern wanderten in den 1920er Jahren nach Kuba ein. Ruth Behar wurde 1956 in Havanna geboren; als sie vier Jahre alt war, emigrierte ihre...

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