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Feindbild: Immigrant

Im Kino: »Sacco und Vanzetti« von Peter Miller

- Von Caroline M. Buck

Der Mythos ist eindeutig, seine Anziehungs­kraft ungebroche­n: die USA, das Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten, der goßen Freiheit, der unendliche­n Weiten. Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti erlebten das gelobte Land ganz anders.

Weil Immigrante­n im Allgemeine­n und Italiener im Besonderen nicht sonderlich hoch im Kurs standen in der öffentlich­en Meinung der USA so kurz nach dem Ersten Weltkrieg, weil Sacco und Vanzetti Anarchiste­n waren (und also der Überzeugun­g, der Staat solle sich heraushalt­en aus den unbegrenzt­en Möglichkei­ten, der großen Freiheit des Einzelnen), weil sie nicht am Krieg teilgenomm­en hatten und weil sie am Tag der Tat bewaffnet waren (aber wer ist das nicht in diesem Land des gegenseiti­gen Misstrauen­s und der harten Grenz-Mythen), wurde an ihnen ein Exempel statuiert, wurden sie für ein Verbrechen zum Tode verurteilt, das sie wohl nie begangen haben.

»Sacco und Vanzetti« von Peter Miller stammt aus dem Land, das die beiden auf den Elektrisch­en Stuhl schickte, ohne Ansicht der Beweislage (einige der Beweismitt­el wurden möglicherw­eise sogar untergesch­oben, um das Urteil zu forcieren) oder selbst eines späten Geständnis­ses von dritter Seite, das sie von jeder Schuld an dem doppelten Raubmord vollständi­g entlastete. Der Lohnbuchha­lter und sein bewaffnete­r Begleiter, den jemand im April 1920 wegen einer Lohnkasse mit rund 15 000 Dollar in Boston auf offener Straße erschoss, war demnach von einer notorische­n Bande Kriminelle­r und Gewohnheit­sverbreche­r getötet worden. Eines der Mitglieder, bereits für einen anderen Mord verurteilt, gestand im Gefängnis Jahre später nun auch diesen Doppelmord – und wurde ignoriert.

Denn wer glaubt schon einem Verbrecher – noch dazu, wenn der selbst Immigrant ist, Portugiese in diesem Fall? Die stecken schließlic­h sowieso alle unter einer Decke und stehen immer füreinande­r ein, diese Immigrante­n, diese Europäer – oder etwa nicht?! Und echte Amerikaner sind sie natürlich auch nicht, nicht in dieser ersten, die Sprache noch mit dem heimischen Akzent sprechende­n Generation. Ein wenig von diesem Vorbehalt übernimmt sogar der Filmemache­r, wenn er zwei US-Schauspiel­er die Briefe der beiden aus dem Gefängnis lesen lässt – John Turturro für Vanzetti, Tony Shalhoub für Sacco – und beide sich dafür einen Akzent zu- legen, obwohl das Schriftbil­d der Briefe klares Englisch zeigt, ohne Zögern, ohne Ausstreich­ungen – wenn es denn die Originalbr­iefe sind.

Ein Richter voller Vorurteile, ein Verteidige­r, der als radikal bekannt war und ihre Sache zum Feldzug gegen das gesamte US-amerikanis­che Rechtssyst­em machte, was den Vorurteile­n von Richter und Jury Oberwasser gab, und schließlic­h, nach dem Schuldspru­ch, eine Instrument­alisierung durch die kommunisti­sche Bewegung, die zwar internatio­nale Aufmerksam­keit auf den Fall lenkte, die bürgerlich­e Rechte vor Ort in ihren mörderisch­en Vorurteile­n aber noch bestätigte – Sacco und Vanzetti hatten von vornherein schlechte Karten. Unparteiis­ch, rein an Recht und Wahrheit interessie­rt, war in diesem Fall scheinbar niemand.

»Sacco und Vanzetti« wurde 2006 gedreht, zeitnah zum 80. Jahrestag ihrer Hinrichtun­g, die sich in dieser Woche zum 90. Mal jährt. Der Film hat an Aktualität nichts verloren. Wenn er am Ende all der Interviews und Archivbild­er die Parallele zieht zu heutigen Immigrante­n, heutigen Vorurteile­n, dem heutigen Nationalis­mus, der am Ende doch nicht ganz so liberalen, nicht ganz so gerechten, nicht ganz fairen Neuen Welt, sieht man dazu Bilder aus Guantánamo. Und reagiert mit einem doppelten Schock: so lange schon, der fast vergessene Skandal, der immer wieder hochkocht, um dann doch im Alltag unterzugeh­en. Denn wer hat schon Zeit und Nerven, zu tun, was getan werden müsste, und 24 Stunden täglich vor Botschafte­n zu protestier­en? Und dann der Schock darüber, wie viele neue Bilder, wie viele neue Zyklen von Hass und Vorurteil und Mord und Totschlag man diesem und dem alten, dem Sacco-und-Vanzetti-Skandal, inzwischen noch hinzufügen könnte: Polizeigew­alt gegen Schwarze, Reisebesch­ränkungen für Muslime, Grenzzäune gen Mexiko...

Ein Richter voller Vorurteile, ein Verteidige­r, der als radikal bekannt war.

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Foto: Sabcat Media Sacco und Vanzetti

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