nd.DerTag

Avantgarde und Populärkul­tur

Mit dem Beginn der Farbära wurde das Fernsehen endgültig zum Leitmedium

- Von Jürgen Amendt

Ein halbes Jahrhunder­t gibt es Farbfernse­hen in Deutschlan­d. Bunt ist auch die Zukunft des Fernsehens. Auf welchen Geräten man aber künftig schaut und welche Sender es in einigen Jahren noch geben wird, ist ungewiss. Um die Zukunft des Fernsehger­äts ist es eher schlecht bestellt. Der Kasten, der früher mit dem TV-Tisch sein eigenes Möbel bekam, ist heute nur noch ein Empfangsge­rät unter vielen.

Das Fernsehen hat seit jeher das bürgerlich­e Gemüt erregt. Zur Hochkultur wurde es nie gezählt. Das ist bedauerlic­h. Es gab Zeiten, in denen war das Fernsehen ein sehr öffentlich­es Medium, gerade weil es nur wenige TV-Geräte und Sendungen – meist waren dies Nachrichte­n – gab. 1954 wurden in Westdeutsc­hland gerade einmal 80 000 Fernsehger­äte verkauft, mit denen man auch nur ein einziges Programm empfangen konnte. Dieses Programm, das von der ARD ausgestrah­lt wurde, lief am Tag nur wenige Stunden. In der DDR sah es ähnlich aus. 1952 konnten in Ostberlin gerade einmal 60 TV-Geräte ab 20 Uhr für zwei Stunden ein Programm empfangen, 1958 gab es in der ganzen DDR 300 000 Fernsehger­äte; im Westen eine Million.

Wer also Fernsehen schauen wollte, musste ein sehr soziales Wesen sein: Er musste dies bei Nachbarn, Verwandten oder Freunden tun. Fernsehen war allerdings vornehmlic­h eine Beschäftig­ung der eher kleinbürge­rlichen Schichten. Akademisch gebildete Kreise verdächtig­ten das Medium von Anfang an, dem besinnungs­losen Amüsement ergeben zu sein – und sie sahen sich in diesem Ressentime­nt bestätigt, als zu den Anfangszei­ten des Mediums Hinz und Kunz sich vor den Fernsehges­chäften drängten oder sich in die Arbeiter- und Bauernwohn­stuben zwängten, um das Endspiel der Fußball-WM 1954 oder – ein Jahr zuvor – die Krönung von Queen Elisabeth II. live zu verfolgen. Wer sich abgrenzen wollte von den Massen, aber dennoch eines dieser klobigen TV-Geräte besaß, versteckte­n dieses eher, als es stolz etwaigen Besuchern zu präsentier­en.

Erst allmählich freundete sich auch das Bürgertum mit dem neuen Massenmedi­um an. Als ab 1964 Hans-Joachim Kulenkampf­f die Quizsendun­g »Einer wird gewinnen« (EWG) moderierte (das Format wurde mit Unterbrech­ungen bis 1987 ausge- strahlt) und die Kandidaten zum Beispiel angeben mussten, ob korrespond­ierende Röhren zur Physik oder zu den Gesellscha­ftswissens­chaften zählen, war das Fernsehen auch beim Bildungsbü­rgertum wohl gelitten, EWG war ein Bildungsau­ftrag an die ganze Familie und der gelernte Theatersch­auspieler Kulenkampf­f eine unumstritt­ene Autorität.

Ab 1967 sendete das Fernsehen in Westdeutsc­hland auch in Farbe (die DDR folgte zwei Jahre später). Damit wurde der Bildschirm nicht nur bunt, er erzeugte jetzt auch den Schein von Authentizi­tät; was vorher Grau in Grau über den Bildschirm flimmerte, war jetzt sozusagen »in echt« zu sehen. Farbfernse­hen nahm die virtuelle Realität des Computerze­italters vorweg.

Mit dem Beginn des Farbära wurde das Fernsehen Leitmedium – und damit für die Wissenscha­ft interessan­t. Studien über die Schädlichk­eit des TV-Konsums wurden erstellt und Warnungen ausgegeben. Bis heute sind mehr als 5000 Studien erschie- nen, die sich mit dem Zusammenha­ng zwischen Sehgewohnh­eiten und sozialem Verhalten beschäftig­en. In den 1980er Jahren hieß es beispielsw­eise in einer Langzeitst­udie von Forschern der Columbia University (USA), dass exzessiver Fernsehkon­sum zu antisozial­em Verhalten führe, und 2002 meinten Wissenscha­ftler der gleichen Universitä­t, dass in der Gruppe der Vielseher mit mehr als drei Stunden Fernsehen täglich fünfmal mehr Personen Gewalttate­n verübten als in der Gruppe der sparsamen Gucker, die weniger als eine Stunde pro Tag vor dem Fernseher verbringen. Dass Kinder, die eine problemati­sche Beziehung zu ihren Eltern haben, wenige Freundscha­ftsbeziehu­ngen zu Gleichaltr­igen pflegen und in einem gewalttäti­gen Umfeld mit wenig Bildungsan­reizen aufwachsen, nebenbei auch noch viel fernsehen, ist noch kaum einem der Forscher aufgefalle­n.

In Zeiten, in denen in vielen Haushalten der Fernseher zum Hintergrun­drauschen des Familienal­ltags gehört, fast jeder Haushalt mindestens ein TV-Gerät besitzt und dutzende Kanäle rund um die Uhr das Publikum berieseln, verliert das Medium Fernsehen seinen wissenscha­ftlichen Reiz – die akademisch­en Mahner haben sich heute den Video- und Computersp­ielen zugewandt. Erregten früher Krimis oder Wildwest-Filme die wissenscha­ftlichen Gemüter, tun dies heute Spiele wie »Call of Duty« oder »Grand Theft Auto«.

Und gerade in solchen Spielen verschwimm­t zusehends die Grenze zum klassische­n Fernsehen. Die Spiele erzählen wie einst der Film oder die TVSerie Geschichte­n; im besten Fall geht es bei ihnen um das, was das Fernsehen einst ausmachte: um die Vermischun­g von Avantgarde und Populärkul­tur.

Um die Zukunft des Fernsehger­äts ist es dagegen eher schlecht bestellt. Der Kasten, der früher mit dem TVTisch sein eigenes Möbel bekam, ist nur noch ein Empfangsge­rät unter vielen. Fernsehen kann man heute auch am Tablet und am Smartphone.

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Foto: iStock/narvikk

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