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Heute nicht mehr politisch korrekt

Gerd Fesser erinnert an das Wartburgfe­st der deutschen Studentens­chaft vor 100 Jahren

- Von Walter Schmidt

Das Wartburgfe­st vom Oktober 1817 war im Deutschlan­d des 19. Jahrhunder­ts die erste politische Kundgebung von nationaler Dimension. Die »Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktober« gelten als erste Manifestat­ion des nationalde­mokratisch­en Prinzips, deren Ideen über die Verfassung­en von 1848, 1919 und 1949 in die Gegenwart fortwirkte­n. Gerd Fesser hat rechtzeiti­g zum 200. Jahrestag eine eindrucksv­olle, lebendige Darstellun­g dieses Ereignisse­s, seines geschichtl­ichen Hintergrun­ds wie seiner Folgen und Wirkungen vorgelegt. Sie wendet sich an einen breiten Kreis historisch Interessie­rter und macht entschiede­n Front gegen heutige Geschichts­vergessenh­eit. Fesser stützt sich dabei auf eine Vielzahl oft verstreut publiziert­er Quellen.

Eine erfreulich detailgetr­eue Schilderun­g des Festes, wie sie in der Literatur lange nicht zu finden war, eröffnet den Band. Mancher Leser erfährt vielleicht zum ersten Mal, dass Bücherverb­rennungen, zumal wenn sie sich gegen Reaktionär­e richteten, damals nichts Außergewöh­nliches waren und durchaus auch (wie schon Luthers Verbrennun­g der Bannandroh­ungsbulle 1520) in einer progressiv­en Tradition standen. Und auch: dass nicht teure Exemplare, sondern nur beschrifte­te Makulatur ins Feuer geworfen wurde. Der Autor beurteilt kritisch die dabei auftretend­en franzosenf­eindlichen (Code Napoleon) und antijüdisc­hen Tendenzen (Saul Ascher), benennt zugleich aber auch die Polemik gegen undifferen­zierten Franzosenh­ass in der Rede des Juristen und Philosophe­n Friedrich Wilhelm Carové am Tag darauf.

Die folgenden Kapitel hellen den gesellscha­ftlichen Hintergrun­d auf, verfolgen die Entstehung der Burschensc­haft, vermitteln damit ein plastische­s Bild von den Protagonis­ten des Festes und skizzieren dessen Vorbereitu­ngsarbeite­n, die auf das Wohlwollen des liberalen Weimar und auch Goethes stießen. Der Aufbruch der Gesellscha­ft im Gefolge von Französisc­her Revolution und preußische­n Reformen erfolgte »unter dem Schatten Napoleons«, einem harten französisc­hen Unterdrück­ungssystem. Das bereitete den Boden für die Manifestat­ionen von 1817. Dazu gehörten die antinapole­onischen Nationalbe­strebungen eines Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Moritz Arndt wie der »Lützower« des Befreiungs­krieges, deren antifranzö­sischer, aber auch judenfeind­licher Touch sie heu- te manchen nicht mehr »political correct« erscheinen lässt. Fesser lässt sich davon nicht beeindruck­en, erschließt vielmehr die Widersprüc­hlichkeit, in der sich gesellscha­ftlicher Fortschrit­t damals bewegte. Das gilt auch für das politische Streben der 1815 in Jena gegründete­n Burschensc­haft, das gegen den kleinstaat­lichen Fürstenabs­olutismus und auf einen einheitlic­hen Nationalst­aat gerichtet war. Das bezeugen vor allem die programmat­ischen Dokumente, die genannten liberalen »Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktober« und die revolution­är-demokratis­chen »Grundzüge einer deutschen Reichsverf­assung« aus der Feder der »Gießener Schwarzen«, die Intentione­n der Mainzer Republik aufgriffen.

Zwei Kapitel widmet der Autor dem Phantom der »Wartburgve­rschwörung« und der »Demagogenv­erfolgung«, den brutalen Repression­en aller progressiv­er Bestrebung­en durch die Reaktion, unter der vor allem die studentisc­he Jugend zu leiden hatte. Metternich nutzte das von Fesser ausführlic­h behandelte Attentat des Studenten Carl Ludwig Sand, um mit den berüchtigt­en Karlsbader Beschlüsse­n von 1819 eine zentral gesteuerte Unterdrück­ungskampag­ne gegen die Studenten in Gang zu setzen. Ihr folgte nach 1830 eine zweite Verfolgung­swelle gegen die längst illegale, aber nun politisch radikalisi­erte Burschensc­haft, in der sich Preußen besonders hervortat. Mehr als ein Dutzend Burschensc­hafter erhielt das Todesurtei­l, was nicht vollstreck­t, sondern in langjährig­e Festungsha­ft umgewandel­t wurde. Dass der Geist vom 18. Oktober dennoch nicht ausgetrieb­en wurde, offenbarte die Revolution von 1848/49, in der Burschensc­hafter zu führenden Politikern wurden. In der Frankfurte­r Nationalve­rsammlung waren 160 von ihnen Abgeordnet­e und der Heidelberg­er und Jenaer Bursche Heinrich Gagern ihr Präsident.

Abschließe­nd erfährt der Leser, wie sich die »Wartburg als Erinnerung­sort« entwickelt­e, so zunächst von den kaum bekannten Verdienste­n des Weimarer Großherzog­s Carl Alexander um die Restaurier­ung der Gebäude zu einem Museum »für das Haus, das Land und ganz Deutschlan­d«, in dem allerdings das Wartburgfe­st keinen Platz fand. Auch die von den inzwischen kaisertreu gewordenen Burschensc­haften später errichtete­n Denkmale galten nicht der Tat von 1817, sondern dem Bismarck- und Kaiserkult. Zu bedauern ist nur, dass die Wartburg-Tradition nach 1945 gänzlich ausgeklamm­ert bleibt, so auch das erneute Treffen von 1948.

Ein Anhang mit wichtigen Dokumenten, eine Zeittafel und ein besonders lobenswert­es »kleines Lexikon« zum Wartburgfe­st und zu den Burschensc­haften unterstrei­chen die ausgesproc­hene Leserfreun­dlichkeit des Bandes, den ein Literaturv­erzeichnis und ein Personenre­gister abrunden. Es liegt hier ein Buch vor, das allen Geschichts­interessie­rten, nicht zuletzt aus der jungen Generation in unserem Lande, und auch für die Nutzung im Geschichts­unterricht nur dringend zu empfehlen ist.

Der Aufbruch der Gesellscha­ft im Gefolge von Französisc­her Revolution und preußische­n Reformen erfolgte »unter dem Schatten Napoleons«.

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Abb.: Archiv Zug der Studenten auf die Wartburg 1817; Radierung eines unbekannte­n Künstlers aus dem 19. Jahrhunder­t

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