Schwieriger Kampf gegen Korruption
Der von der EU geforderte Kampf gegen Bestechung und Vorteilsnahme in Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Justiz der Ukraine ist ein Langzeitprojekt.
Die Ukraine gilt als das korrupteste Land Europas. Der Machtmissbrauch ist Teil der politischen Kultur geworden. Weil die Justiz versagt, gehen nun Bürger gegen Bestechung und Bestechlichkeit vor.
Andreii ist eine Eule«, sagt seine Frau. Nächtelang schläft er nicht, sitzt im Schlafanzug im Lichtpegel seines Computers und programmiert etwas. Was genau, wisse sie nicht, sagt die Lehrerin und ihr Mann lächelt, ohne den Blick von seiner dampfenden Tasse Tee zu heben. Er ist gerade erst aufgestanden, als seine Frau sich auf den Weg zur Schule macht. Wenn die Tür ins Schloss fällt, beginnt seine Arbeit. Für die nächsten 15 Stunden wird er eine Billion Datensätze auswerten und daraus Kreisdiagramme programmieren. Um Punkt 18 Uhr wird er seinem Arbeitgeber in einem Skype-Meeting vortäuschen, er hätte den ganzen Tag an der Seite des lokalen Strombetreibers gearbeitet. Außer dem Klimpern der Computertastatur und dem Miauen der Katze ist es vollkommen still in der 50 Quadratmeter großen Wohnung im Zentrum von Kiew. Die Revolution, die Andreii plant, ist eine leise.
Andreii Ulin ist offiziell Softwareentwickler und inoffiziell Datenjournalist. Er nennt seine Beschäftigung »ein Hobby«, alles andere wäre gefährlich. Manche würden ihn als Hacker bezeichnen. Seit etwa zwei Jahren ist er ziviler Antikorruptionsermittler. Auf Internetplattformen veröffentlicht er die Vermögensverhältnisse der 100 reichsten Staatsdiener: Politiker, Juristen, Ärzte. Für Andreii sind es »Banditen«. Mit einem Bot hackt er mehr als eine Billion Daten- sätze von der Seite der Regierung. Die Einkommen, Ländereien und Anlagen der Machtelite inklusive ihrer Familien visualisiert er in interaktiven Kreisdiagrammen. Je größer der Kreis, desto mehr drängt sich die Frage auf, wie es dazu kommen kann. Eigentlich sollten die Vermögensregister aller Politiker seit 2015 frei zugänglich sein. So verspricht es »E-Declaration«, eine elektronische Einkommens- und Vermögenserklärung für Staatsbedienstete und Teil der von der EU auferlegten Antikorruptionsreform. Doch das »eigentlich« zieht sich wie ein rhetorischer roter Faden durch den schleppenden Kampf gegen die Korruption.
Gestern habe er sein zweites und letztes Werk gepostet, sagt Andreii und öffnet auf dem Bildschirm die Website Liga Business Plattform. »Eigentlich sind die Informationen vorhanden, aber sie sind so versteckt, dass sie ein normaler Mensch nicht findet. Ich wollte die Fakten zugänglich und sichtbar machen«, begründet Andreii und scrollt auf seiner Facebook-Chronik zum gestrigen Eintrag. 2000-mal wurde sein Werk geteilt. Die Webseite verzeichnet 33 000 Klicks. »Hast du das gesehen«, schreibt eine Userin unter den Eintrag, den Andreii mit dem Finger nachfährt. »Ich bin glücklich, wenn ich ein bisschen Öl ins Feuer gießen kann.« Für ihn sei seine Arbeit das wichtigste Mittel, um die Korruption in der Ukraine zu bekämpfen: alle Informationen transparent und für jeden zugänglich zu machen. »Jeder weiß, wer ins Gefängnis gehört«, sagt Andreii, seine Visualisierung zementiert die Ahnung.
Eigentlich brachte die ukrainische Regierung 2014 ein Reformpaket auf den Weg, das die Korruption im Land nachhaltig bekämpfen soll. Auf Druck der EU-Partner sollen die neuen Regularien bis 2018 mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht im öffentlichen Dienst schaffen. Als Zuckerbrot dafür dürfen Ukrainer seit Juni visafrei in die EU einreisen. Einen großen Teilerfolg nannte der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, den Deal beim EU-Ukraine-Gipfel am 13. Juli. Gleichzeitig sprach er von der Korruptionsbekämpfung als die wichtigste Aufgabe des Landes. Noch immer gilt die Ukraine als korruptestes Land Europas. Nach dem letzten Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegt die Ukraine unter 176 Staaten Platz 131. So, betonte Juncker, habe die Ukraine kaum Chancen, internationale Investoren zu locken. Nach einer Studie von Dragon Capital und dem europäischen Wirtschaftsverband sehen Unternehmen die Korruption als den ausschlaggebendsten Faktor, nicht in der Ukraine zu investieren – noch vor dem seit 2014 existierenden politischen Konflikt.
Andreii dagegen spricht statt von dem Konflikt oder der »Ukrainekrise« lieber von der Revolution. Sie hat Verlierer, aber auch Gewinner hervorgebracht. Von der Freiheit profitierten alle, von der neu gewonnenen wirtschaftlichen Freundschaft mit Europa dagegen nur eine kleine Machtelite. Die Verlierer der Maidan-Revolution seien die Alten, vor allem im Osten des Landes. Dann erzählt er von seiner Großmutter. Immer seltener kocht sie beim Besuch Fleisch. »Zu teuer«, sagt Andreii, ebenso wie Medizin. Sie bekommt 40 Euro Rente im Monat, drei Mal weniger als vor dem Regierungswechsel.
Mit dem Cursor fährt Andreii über seine programmierte Seite und über die Filterparameter wie Einkommen, Vermögen, Land, Immobilien. Fast jedes Mal steht auf dem größten Kreis der Name des Staatsoberhaupts: Petro Poroschenko. Gesamtvermögen: 383 Millionen US-Dollar, Ländereien von acht Fußballfeldern, vier Luxuskarossen. »Die Regierung hat sich in einem neuen Team formiert, die Spieler sind gleich«, sagt Andreii. Nur fünf Prozent der bisherigen Regierung Janukowitschs wurden ausgetauscht. Sie, die Politiker, Juristen und Staatsdiener, seien die Gewinner der Revolution und hätten wenig Interesse daran, die Situation zu verändern. Die direkte Korruption in seinem Land nennt Andreii nicht nur Wirtschaftsbremse und Faktor für soziale Ungleichheit, sondern vor allem »Diebstahl«, nur, dass der Machtelite kein Prozess gemacht werden kann: »Es ist unmöglich einen Rechtsstreit zu gewinnen. Wie auch, wenn die Juristen selbst bestechlich sind?«, fragt er mit zusammengezogenen Brauen. Es ist, als ob der Fuchs den Hühnerstall bewacht.
Eigentlich wollte die Regierung Mitte Juni ein Antikorruptionsgericht gründen. Ein separates Gericht war Teil des EU-Forderungskatalogs. Bislang erfüllt die Ukraine 20 von 35 Konditionen ihrer internationalen Partner. Im Gegenzug soll im September das EU-Assoziierungsabkommen in Kraft treten. Nachdem die Ukrainer einen Monat lang vergeblich auf die Abstimmung warteten, verkündete Petro Poroschenko Anfang Juli sein politisches Zurückrudern. Statt eines Gerichts soll es künftig nur eine Antikorruptionskammer geben, angegliedert an den Obersten Gerichtshof – das marode, alte System. Das Nationale Antikorruptionsbüro nennt die Entscheidung in einer offiziellen Pressemitteilung eine »bewusste Täuschung der europäischen Partner«, der Leiter von Transparency International Ukraine, Yaroslav Yurchyshyn, sogar »ein effektives Instrument, das gerade Schmiergeldnehmern zugute kommt«.
»Lass es uns so sagen: Die Ukraine befindet sich in einem Übergang«, sagt Halyna Yanchenko in einem Einkaufzentrum am Rande von Kiew. Sie habe wenig Zeit, sagt sie schon zur Begrüßung. Ihr Mann und sie arbeiten in verschiedenen Initiativen und Gremien, erklärt die ehemalige Stadtratsabgeordnete von Kiew, während sie ihren Sohn auf dem Arm trägt. Beide Elternteile sind Wissenschaftler und in der Politik aktiv, agieren in Sozialen Netzwerken als Multiplikatoren und mit schwarz-weiß Profilbildern in Anzug und Kostüm. Halyna Yanchenkos Mann, Viktor Andrusiv, skizzierte in seinem Buch »Change the Future« eine neue Formation der Ukraine. Der »Übergang« wurde für beide ein Vollzeitjob.
Mit dem Kampf gegen Korruption sei es wie mit dem Training im Fitnessstudio, erklärt sie. Es brauche drei Komponenten: den Raum, die Geräte, den Aufwand. Erst dann würden sich Erfolge einstellen. Den größten Teilerfolg nennt sie die elektronische Vermögensverfassung »E-Declaration«, danach ein anderer Mechanismus des Reformpakets: »ProZorro«, ein Überprüfungsinstrument für die Vergabe von öffent-
Nach einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie äußerten 70 Prozent der Befragten, dass sie für ihre Gesundheitsversorgung schon einmal mit Schmiergeld bezahlten.
lichen Aufträgen. »Wir wollen ja nicht die Olympischen Spiele gewinnen«, betont Yanchenko. Es ist ihr Job, optimistisch zu sein. Seit Beginn des Jahres ist die Wissenschaftlerin im Beobachtungsgremium des Nationalen Antikorruptionsbüros.
Eigentlich ist das Büro eine gut gemeinte Erfindung der Europäischen Union. Die Agentur wurde 2015 mit dem Ziel gegründet, Vorfällen von Korruption nachzugehen. Zum Teil von der Bevölkerung gewählte Beamte arbeiten in lokalen Büros als »Detektive«. Über eine kostenlose Telefonnummer können Bürger Fälle melden. 381 Ermittlungsverfahren hat die Agentur bislang eingeleitet. Aber eigentlich war sie nur einmal erfolgreich: Anfang März wurde der Leiter der Steuerbehörde, Roman Nasirov, festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, etwa zwei Billionen Hryvnias, umgerechnet 75 Millionen Dollar, veruntreut zu haben. Für kurze Zeit schien seine Verhaftung wie ein symbolischer Sieg der Antikorruptionsbewegung. In Untersuchungshaft gab er an, Herzprobleme zu haben. Dann wurde er auf Kaution entlassen.
»Die effektivste Strafverfolgung kommt aus der Zivilgesellschaft«, erklärt Yanchenko. Und es komme darauf an, dem Ottonormalbürger die Werkzeuge dafür zu liefern, erklärt sie und zeigt auf ihrem Smartphone die von ihr entwickelte »anticorruption repair map«. Eine Landkarte visualisiert alle Schulen, Krankenhäuser, Wohngebäude und Spielplätze, die seit 2015 gebaut oder renoviert wurden. Ein Klick auf die Objekte offenbart alle Information zum Bau und der Vergabe von Geldern bis hin zur angeheuerten Baufirma. Bürger sollen durch die »anticorruption repair map« Vorfälle im Zusammenhang mit leer stehenden Bauruinen oder veruntreuten Geldern melden können. Jeder in der Gesellschaft sei jetzt in der Rolle, »Watchdog« zu sein, meint Yanchenko und betont gleichzeitig: »Wenn wir die Misswirtschaft verändern wollen, müssen wir die gesamte Gesellschaft verändern.«
Nach dem von Transparency International initiierten Global Barometer der letzten zwei Jahre gaben knapp 40 Prozent der Ukrainer an, Fälle der Korruption zu melden. 16 Prozent befanden, es würde keinen Unterschied machen und fast derselbe Anteil der Befragten befürchtet negative Konsequenzen. Die Meinungsumfrage attestiert dem »korruptesten Land Europas« zumindest einen Teilerfolg: Noch im vorherigen Bericht, unter Präsident Janukowitsch, gaben rund zwei Drittel der Befragten an, dass das Melden von Korruptionsfällen sinnlos sei oder sogar gefährlich.
»Wie solltest du jemand melden, wenn du nicht einmal der Polizei trauen kannst«, erklärt Valentin Bondarenko in seinem grünen VW-Bus. Der 35-Jährige ist auf dem Weg zu einem Stadtfest in seiner Heimatstadt Romny. In dem Ort mit 40 000 Einwohnern soll er einen Vortrag über seine Arbeit halten. Valentin trägt Silberohrringe, Turnschuhe und einen langen Bart. Seit der Revolution ist er grau. Das Auto parkt er vor dem mit Blumen dekorierten Stadtplatz, doch er steigt nicht aus. Die Erzählung zu seinem »vorherigen Leben« passt nicht in die Idylle der Kleinstadt.
Sie spielt sich in einem Zeitsprung vor zehn Jahren ab. Damals arbeitet er für eine Baufirma, die nur in einem Ordner in seiner kleinwagenschweren Wohnzimmergarnitur existierte: »Ich war der Profiteur dieses Systems«, sagt der studierte Jurist und Radioelektroniker. Seine beiden Abschlüsse sind gekauft. Mit 25 bestand sein Job darin, für seinen Boss zu öffentlichen Ausschreibungen zu gehen und in einer öffentlichen Auktion immer mit dem höchsten Angebot zu pokern. Der Bauauftrag ging immer an den Niedrigstbietenden und von diesem wurde er bezahlt. »Fast jeder in der Runde wusste, dass wir nur spielen und ich war der Statist«, sagt Valentin und blinzelt in die Sonne. In dieser Zeit fühlte sich die Korruption für ihn an wie der Eintritt in einen exklusiven Club: »Erst schämt man sich, dann profitiert man selbst und merkt schließlich, dass da noch mehr Gewinner des Systems sind«, sagt er und ergänzt eine Atempause später: »Wenn du jemand sein willst, musst du eben mitspielen.«
Das inszenierte Geschäft brachte ihm eine Dreizimmerwohnung im Zentrum, eine goldene Armbanduhr, schweißtreibende Momente, wenn während der Auktionen der Angebotsbrief geöffnet wurde, schlaflose Nächte, Schlägertrupps vor seiner Haustüre und Morddrohungen. »Ich hatte keine Chance zur Polizei zu gehen«, sagt Valentin Bondarenko. Die Korrupten seien wie Schakale. Sie formieren sich immer in Gruppen, die um ihre Beute kreisen: »Irgendwann war ich vollkommen alleine.« Was den Ausstieg brachte? Europa und die Sicht auf ein anderes Leben, beschreibt er zehn Jahre später.
»Auf lange Sicht wird das visumfreie Regime dazu beitragen, die ukrainische Politik von diesen Parasiten zu reinigen«, prognostiziert auch der Parlamentsabgeordnete Sergii Leshchenko in einem Gastbeitrag der »Kiev Post«. Je mehr Uk- rainer den Lebensstandard in der EU kennenlernen würden, desto mehr fragten sie sich: Warum haben wir nach 25 Jahren noch ein Straßennetz, einen Gesundheitssektor und ein Justizsystem wie in einer Bananenrepublik?
Laut Transparency International Ukraine seien viele Ukrainer gezwungen, Bestechungsgelder zu zahlen, um öffentlichen Service zu bekommen: für Bildung, Gesundheitsvorsorge, bei der Straßenkontrolle. Nach einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) äußerten 70 Prozent der Befragten, dass sie für ihre Gesundheitsversorgung schon einmal mit Schmiergeld bezahlten. Nur ein Drittel der Ukrainer wäre bereit, auf die Bestechung und die damit zusammenhängenden Vorteile zu verzichten, um die Korruption zu bekämpfen.
»Die Korruption hier ist kein System, sondern eine Kultur«, erklärt Valentin Bondarenko. Früher ging er davon aus, dass es deshalb unmöglich sei, sie zu beseitigen, weil nur die Mächtigen das System reformieren könnten. Dann entschied er, selbst einer der Mächtigen zu werden. Valentin ist heute Vorsitzender des Ortsverbands von »Bewegung der neuen Kräfte« und Abgeordneter im Stadtrat von Romny. Sein Spezialgebiet: die Korruptionsbeseitigung. Seine Partei belegt fünf Sitze im Lokalparlament. Auf einer Metalltafel in seinem Schlafzimmer schiebt er Metallmagneten mit Namen der 28 Abgeordneten hin und her, sie sind in Feinde und Unterstützer unterteilt. Zwei Drittel müsste er überzeugen, um einen Korruptionsvorfall vor das Gericht zu bekommen, sagt er. Zehnmal habe er vor dem Kabinett einen Fall gemeldet. Fast genauso oft kam die Person vor Gericht. »Nur als Abgeordneter habe ich die Macht, etwas an den Verhältnissen zu verändern«, sagt er, dann steigt er aus seinem moosgrünen VW-Bus aus.
Mit dem Laptop unterm Arm marschiert Valentin an Zuckerwattebuden und Spaziergängern vorbei zum zentralen Platz des Parks. Hier soll er am »Feiertag der Jugend« über die Korruptionsreformen sprechen. Als Erstes formiert er die wie in der Schule in Reihe gestellten Stühle zu einem Kreis. Rund 40 Kinder, Jugendliche und Ältere hören seinem Impulsvortrag zu, durch den sich vor allem ein bevorzugtes Wort zieht: »Prozess«. Die Korruption als Kultur und nicht nur als System zu eliminieren, werde Jahrzehnte dauern, »deshalb müssen wir jetzt damit anfangen«, sagt er in Richtung dreier Jugendlicher. Junge Ukrainer müssten jetzt in die EU ausschwärmen und mit der Motivation zurückkommen, in ihrem eigenen Land aufzuräumen. »Wir müssen für neue Regeln kämpfen«, sagt er zum Abschluss, dann sein Zweitlieblingswort: Revolution. Damit würden sich die Ukrainer zumindest auskennen.