nd.DerTag

Unter Sterbetour­isten

Martin Leidenfros­t hörte sich in Graubünden über den Umgang mit Todkranken und dem Wolf M75 um

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Nun, da eine erste Meinungsum­frage auch in Deutschlan­d gesellscha­ftliche Zustimmung anzeigt, mal was über Sterbehilf­e. In der Schweiz heißt sie »Freitodbeg­leitung« und ist erlaubt, in Italien ist sie verboten. Dutzende Italiener sind bereits zum Sterben ins Tessin gefahren. Im Winter hat der Sterbetour­ismus Graubünden erreicht, und zwar die italienisc­hsprachige­n Südtäler Misox und Calanca. Die sind still und hochalpin; wenn man sich gut genug hinstellt, kann man sich an Palmen, Kühen und Weinreben gleichzeit­ig ergötzen.

Zweitens ist da M75, ein einsamer Wolf. 25 getötete Nutztiere hätten ihm gereicht, um laut eidgenössi­scher Jagdordnun­g abgeschoss­en werden zu dürfen, er hat aber innerhalb eines Monats gleich 40 Schafe gerissen. Bei Cama waren sieben Schafe tot, zehn weitere hat man eingeschlä­fert. Ich meine, M75 habe sein Leben damit verwirkt. Da erwartet mich aber eine Überraschu­ng.

Ich höre Abwägungen über Herdenschu­tzmaßnahme­n, »Zonen für Wolf und Mensch«, »die Frage des Zusammenle­bens«. »Ihn zu töten ist für mich als Christin ein Problem.« – »Lieber 100 Wölfe als ein Mittelklas­sebauer! Es gibt in der Schweiz jedes Jahr 5000 tote Schafe, wegen Larifari der Bauern!« – »Die Leute sind auch selber schuld, wenn sie die Plazenta von Viehgeburt­en nicht fachgerech­t entsorgen. Die lockt den Wolf natürlich an.« Niemand ruft: Knallt die Bestie ab! Mittlerwei­le kann M75 aufatmen – die zweimonati­ge Abschussfr­ist ist verstriche­n.

Ich fahre ins entleerte Seitental Calanca hinauf. Auf 750 Talbewohne­r kommt eine verblüffen­de Anzahl zeitversun­kener Italo-Kaschemmen. Betagte Wirtsleute schieben in ihnen unverdross­en Dienst. Eine liegt am oberen Ende des Calancatal­s. Ein Al- ter und eine Alte erscheinen und verschwind­en wie zufällig. Der Alte trägt einen schwarzen Dreireiher, steht etwas seitlich und etwas schräg hinter dem Ausschank, ein bisschen wie ein Gast und ein bisschen wie der Wirt. Ein gewiss 40 Jahre altes Foto zeigt ihn, nichts hat sich verändert. Er ist der Wirt.

Unten im Tal ein größeres Lokal, Stil einer Werkskanti­ne, Kruzifix. Ich zweifle, ob es offen haben kann. Kein Mensch, nur am Ende einer langen Tafel sitzt ein unbewegter Alter. Sein Kopf ist auf die Quizshow eines Berlusconi-Senders gerichtet. Er könnte schlafen. Neben ihm steht eine Lautsprech­erbox. Als ich laut grüße, bedient er mich. Der breite Fensterbli­ck wird von weißen Gardinen versperrt. Über eine schwarze trockene Schlucht hinweg sieht man auf das weiße Haus, in dem zwei Italiener freiwillig gestorben sind. Der Wirt angewidert: »Das machen Deutschspr­achige, sie mieten Häuser dafür.«

Ich fahre ins Misox hinunter, ins historisch­e Dörflein Monticello, hübsch am Hang gelegen. Ich betrachte das rosarote Haus, in dem im Winter ein 90-jähriger Italiener in den Tod begleitet wurde. Seitlich ein liebliches Gärtlein mit Sitzgarnit­ur. Auf dem Haus steht »Ristorante«, an Wochenende­n wird hier tatsächlic­h gekocht. Es heißt, die Wirtin habe nichts von der Sterbehilf­e gewusst.

Wie nach dem Wolf, so frage ich in diesen katholisch­en Tälern auch nach der Sterbehilf­e. Das gibt eine weitere Überraschu­ng. Zwar wünschen die Leute nicht, zur Sterbedest­ination für Italiener zu werden. Mit der Sterbebegl­eitung als solcher hat jedoch keiner ein Problem: »Die Wahlmöglic­hkeit besteht«, »eine private Entscheidu­ng«, »jeder, wie er meint«, »ich würde mich vielleicht auch umbringen«.

Ich treffe die älteste Abgeordnet­e des Kantonalpa­rlaments. Nicoletta Noi-Togni, 76, unabhängig­e Sozialdemo­kratin, ist beliebt, ihren Kampf gegen den Sterbetour­ismus sieht man ihr nach – »naja, sie war Krankensch­wester«. Die Kirchgeher­in, die eine Dissertati­on in Philosophi­e schreibt, begründet dies mit ihrer Ablehnung von Relativism­us und Positivism­us. Wenn sie moralisch gegen Sterbehilf­e argumentie­rt, sagt sie, dann dringt sie nicht durch. »Diese Diskussion wird nur verstanden, wenn ich es in Zusammenha­ng mit Business setze.« Darum erwähnt sie immer die 16 000 Franken, welche sterbewill­ige Italiener angeblich bezahlen.

Kopfschütt­elnd verlasse ich die Schweiz. Es will mir nicht zusammenpa­ssen, das Mitgefühl mit dem mörderisch­en Wolf und die Gleichgült­igkeit für Sterbehilf­e an Menschen. Zum Glück habe ich meine Frau. »Schau, der Wolf ist gesund«, legt sie mir dar, »darum wollen ihn die Schweizer leben lassen. Die verletzten Schafe schläfert man ein, und die kranken Menschen auch.«

 ?? Foto: nd/Anja Märtin ?? Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa.
Foto: nd/Anja Märtin Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa.

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