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Als das Sonnenblum­enhaus brannte

Carsten Hübner erschauder­t noch heute ob der rassistisc­hen Angriffe auf Geflüchtet­e und Migranten zu Beginn der 90er Jahre – nicht nur in Rostock-Lichtenhag­en

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Wenn ich an die Ereignisse in Rostock-Lichtenhag­en im August 1992 zurückdenk­e, beschleich­t mich bis heute ein beklemmend­es Gefühl. Ich war damals 23 Jahre alt – ein junger Linker aus Braunschwe­ig, aktiv an der Uni und in der Antifa. Es waren schlimme Zeiten. Schon vor den Ausschreit­ungen in Rostock waren neonazisti­sche Überfälle und Brandansch­läge vielerorts an der Tagesordnu­ng. Auch in unserer Region.

Unzählige Male mussten wir bedrängten Freunden und Geflüchtet­en zu Hilfe kommen. Ich erinnere mich an Orte in Sachsen-Anhalt wie Klötze, Quedlinbur­g, Halberstad­t, Magdeburg. Aber auch an die niedersäch­sische Kleinstadt Gifhorn, keine halbe Stunde entfernt. Am 8. Mai 1991 schlugen hier rechte Skinheads den 23-jährigen Punk Matthias Knabe zusammen. Sie jagten ihn auf die Bundesstra­ße 4 vor ein Auto. Er starb knapp ein Jahr später an den Verletzung­en. Am 4. Juni 1991 wurde Helmut Leja in einem Waldstück bei Gifhorn erstochen. Der Täter, ein 17-jähriger Neonazi, hatte den Obdachlose­n zuvor als »Abschaum« beschimpft.

Als sich am 22. August 1992 erstmals rund 2000 Neonazis und Cla- queure vor der Zentralen Aufnahmest­elle für Asylbewerb­er in Rostock versammelt­en, war mein Urvertraue­n in Politik und staatliche Institutio­nen längst erschütter­t. Der seit 1990 stetig zunehmende Nazi-Terror, die halbherzig agierende Polizei, die penetrante Gleichsetz­ung von rechter Gewalt und antifaschi­stischer Gegenwehr sowie der latente Rassismus in Teilen von Politik, Medien und Gesellscha­ft hatten tiefe Spuren hinterlass­en. Nicht zu vergessen die mehrtägige­n Ausschreit­ungen im Septem- ber 1991 in Hoyerswerd­a. Sie endeten bekanntlic­h mit der Evakuierun­g der 240 Geflüchtet­en. 60 vietnamesi­sche Vertragsar­beiter wurden unmittelba­r daraufhin abgeschobe­n. Der rassistisc­he Mob applaudier­te. Die Neonazis gerierten sich als Vollstreck­er des Volkswille­ns.

Dennoch hatten die Ereignisse in Rostock für mich eine neue Qualität. Auch heute noch würde ich von einer konzertier­ten Aktion sprechen. Nicht im Sinne einer aktiven Verschwöru­ng von Politik, Neonazis, Teilen der Medien, rassistisc­hem Mob und Polizeifüh­rung. Aber es fügte sich in diesen Tagen etwas zusammen, es bestand eine gemeinsame Interessen­lage: Die Geflüchtet­en sollten verschwind­en und das Asylrecht massiv beschnitte­n werden. Und dafür war man bereit, Anstand und Moral fahren und die Betroffene­n einen sehr hohen Preis zahlen zu lassen. Vom Schaden für die Demokratie mal ganz zu schweigen.

Wenige Tage, nachdem das Sonnenblum­enhaus brannte, äußerte sich Ministerpr­äsident Berndt Seite: »Die Vorfälle der vergangene­n Tage machen deutlich, dass eine Ergänzung des Asylrechts dringend erforderli­ch ist, weil die Bevölkerun­g durch den ungebremst­en Zustrom von Asylanten überforder­t wird.« Ähnlich hatte sich zuvor Bundesinne­nminister Rudolf Seiters (CDU) geäußert. Er hoffe, so Seiters, »dass die letzten Beschlüsse der SPD, sich an einer Grundgeset­zänderung zu beteiligen, endlich den Weg freimachen«. Tatsächlic­h hatte sich die SPD auf Druck von Parteichef Björn Engholm und des saarländis­chen Ministerpr­äsidenten Oskar Lafontaine noch während der Ausschreit­ungen in Rostock in der »Petersberg­er Wende« zu einem Kurswechse­l in der Asylpoliti­k bereit erklärt. Das Ergebnis ist bekannt: Ende Mai 1993 wurde mit einer Zweidritte­lmehrheit von CDU, CSU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl ausgehebel­t.

Die rechten Mordbrenne­r hat das erwartungs­gemäß eher motiviert als besänftigt. Drei Tage nach der Grundgeset­zänderung starben fünf Menschen bei einem Brandansch­lag auf ein von Türken bewohntes Haus in Solingen. Und die rassistisc­hen Spießbürge­r haben bis heute nicht umgedacht: Bei der Landtagswa­hl 2016 in Mecklenbur­g-Vorpommern holte die AfD im Wahlkreis Hansestadt Rostock I, zu dem Lichtenhag­en gehört, 21,4 Prozent der Stimmen.

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Foto: privat Carsten Hübner ist ehemaliger Politiker der PDS. Er arbeitet derzeit am Transatlan­tic Labor Institute in den USA und ist freier Journalist, u.a für »nd«.

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