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Kollektive Erinnerung mit Lücken

In Rostock fand eine Gedenkwoch­e zu den Pogromen von 1992 im Stadtteil Lichtenhag­en statt – die Bilanz fällt gemischt aus

- Von Sebastian Bähr, Rostock

Medien, Politik und Zivilgesel­lschaft der Hansestadt versuchen sich an einer Aufarbeitu­ng ihrer Rolle während der rassistisc­hen Ausschreit­ungen vor 25 Jahren.

Das kleine Mädchen mit dem wachen Blick und den schwarzen Haaren kommt nicht weiter. Immer wieder schiebt es die Wortbauste­ine »Asyl«, »Recht«, »Neid«, »Mut« und »Angst« mit den Präpositio­nen »auf«, »zu« und »vor« hin und her. Zufrieden ist sie mit den so geschaffen­en Kombinatio­nen nicht. Die erwünschte Botschaft ist offenbar schwerer zu erreichen als gedacht. Auch ihr Vater probiert an der am Mittwoch neu angebracht­en Gedenkstel­e vor der Rostocker »OstseeZeit­ung« (OZ) sein Glück – und stellt dabei fest, wie schnell die Bedeutung bestimmter Wortreihen sich ändern kann. Der Unterschie­d zwischen Rassismus und Solidaritä­t sind manchmal nur wenige Buchstaben.

Das Schiebespi­el auf dem Steinkubus ist nur eines von fünf Werken der Künstlergr­uppe »Schaum«, die in Rostock im Rahmen der vergangene­n Gedenkwoch­e zu den Pogromen von 1992 täglich enthüllt wurden. Die weiteren vier Kuben weihten die Bild- hauer Alexandra Lotz und Tim Kellner am Rathaus, an der Polizeidir­ektion, am ehemaligen Standort des »Jugend-Alternativ-Zentrums« sowie vor dem »Sonnenblum­enhaus« ein. Die Kunstwerke sollen zur Reflexion über die damalige Rolle der jeweiligen gesellscha­ftlichen Gruppe und Institutio­n anregen sowie Diskussion­en und Gedenken befördern.

Am Mittwochab­end richtete sich der Blick der Rostocker Zivilgesel­lschaft auf die Verantwort­ung der Medien und der Polizei. Die lokale »Ostsee-Zeitung« (OZ) hatte zu einer Podiumsdis­kussion eingeladen. In dem mit rund 150 Besuchern voll besetzten Saal wurden alte Zeitungsar­tikel der Pogromtage ausgestell­t. »Wir sehen die Gedenkwoch­e auch als Gelegenhei­t, vor der eigenen Haustüre zur kehren«, sagte der heutige Chef vom Dienst Jan-Peter Schröder, der 1992 bereits als Feuilleton­redakteur in der »OZ« tätig war. Selbstkrit­isch räumte er gleich zu Beginn ein: »Unsere Kollegen sind nicht aus der Falle herausgeko­mmen, den Sprachgebr­auch der Einheimisc­hen zu übernehmen.« Das »Grundrausc­hen« des Landes sei aber von einer »massiven politische­n Kampagne« geprägt gewesen.

Tatsächlic­h spielten sowohl die lokalen wie auch die bundesweit­en Me- dien vor 25 Jahren eine fatale Rolle beim Anheizen der rassistisc­hen Stimmung. Wenige Tage vor den Angriffen zitierten die lokalen »Norddeutsc­hen Neuesten Nachrichte­n« einen anonymen Anrufer mit den Worten: »In der Nacht vom Samstag zum Sonntag räumen wir in Lichtenhag­en auf. Das wird eine heiße Nacht.« Die »OZ« ließ am 21. August Chris (22), Thomas (22) und Matthias (24) zu Wort kommen: »Die drei wollen davon wissen, dass die rumänische­n Roma ›aufgeklats­cht‹ werden sollen«, schrieb der zuständige Redakteur und ließ die Worte kommentarl­os stehen. Lapidar besagte die Überschrif­t: »Lichtenber­ger wollen Protest auf der Straße«. Selbst nach den Ausschreit­ungen zitierte die Zeitung noch verharmlos­end eine »junge Frau«: »Ich habe das alles nicht gewollt, aber wenn die Herren Politiker jetzt endlich aufwachen (...), hat das alles vielleicht einen Sinn gehabt.«

Redakteur Jan-Peter Schröder erklärte, dass es zu dieser Form von Journalism­us heute nicht mehr kommen würde, doch auch in der »OZ« arbeiten »Menschen mit verschiede­nen Toleranzst­ufen«. Zur Prävention habe man etwa in Zirkeln darüber diskutiert, auf welcher »Grundlage« die eigene Berichters­tattung erfolge. Aus dem Publikum regte sich Widerspruc­h. Die für die Stelen verantwort­liche Künstlerin bedankte sich für den Artikel, den man über ihr Projekt geschriebe­n hatte – und fragte daraufhin, warum am selben Tag gerade auf der Nachbarsei­te ein umfassende­r Artikel den Positionen der AfD und Pegidas eine Plattform bot. »Ich frage da natürlich nach der Sensibilis­ierung, von der sie hier sprechen«, so die Künstlerin. »Da war eine gewisse Vielfalt drin«, antwortete der Chefredakt­eur Alexander Loew. »Ich sehe keinen Grund für eine Entschuldi­gung.« Die »OZ« hatte die AfD-Vorsitzend­e Frauke Petry in den vergangene­n Tagen auch interviewt sowie zur Diskussion ins eigene Haus eingeladen. Ein anderer Zuschauer kritisiert­e die direkte Einbindung von vermeintli­ch rassistisc­hen Facebook-Kommentare­n in aktuelle Printtexte der Zeitung.

Wolfgang Richter, der ehemalige Ausländerb­eauftragte von Rostock, der damals mit vietnamesi­schen Vertragsar­beiten auf das Dach des »Sonnenblum­enhauses« geflüchtet war, erklärte ebenfalls: »Manchmal wünsche ich mir, dass auch von Lokalzeitu­ngen noch mehr hinterfrag­t wird, etwa zu den Reden, die (am Montag) gehalten wurden oder zur Abwesenhei­t des Oberbürger­meisters.« Ein Zuschauer hatte die zu Beginn der Woche von Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig (SPD) gehaltene Gedenkrede als »0815« kritisiert. »Die Vietnamese­n, die fast verbrannt wären, wurden mit keinem Wort erwähnt.« Der Oberbürger­meister Rostocks, Roland Methling, hatte einen Vertreter zu den Veranstalt­ungen geschickt.

Auch der Innenminis­ter von Mecklenbur­g-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU), und der Rostocker Polizeiprä­sident Thomas Laum kamen auf dem Podium zu Wort. Polizeiche­f Laum fand deutliche Worte: »Ich empfinde Scham, dass wir dazu beigetrage­n haben, dass sich Menschen in einer lebensgefä­hrlichen Situation befanden.« Auf die Nachfrage, warum zwei Hundertsch­aften während der Ausschreit­ungen abgezogen wurden, sag- te er: »Für mich ist diese Frage bis heute nicht geklärt.« Eine Zuschauer fragte Caffier, wie die aktuelle Abschiebep­raxis mit den Lehren aus Lichtenhag­en zu vereinbare­n ist. »Das ist kein Stimmung anheizen, sondern geltendes Recht«, stellte der Minister klar.

Die Bilanz der Woche fällt gemischt aus: »Politik, Gesellscha­ft und Presse haben sich nur oberflächl­ich mit ihrer Rolle auseinande­rgesetzt und Betroffene hatten nur wenig Gelegenhei­t, sich zu äußern«, sagte Jonas Dogesch, Sprecher der Migrantenr­ates Mecklenbur­g-Vorpommern­s, gegenüber »nd«. Die Aufstellun­g der dezentrale­n Gedenkstel­en sei jedoch ein »Erfolg«. Wachsamkei­t bleibe dabei wichtig: Rassistisc­he Versammlun­gen wie 2016 im Stadtteil GroßKlein würden zeigen, dass »pogromarti­ge Ausschreit­ungen immer wieder stattfinde­n können«.

Die offizielle Gedenken ist so zwar einen Schritt weiter gekommen, weist aber immer noch Lücken auf. In der Kurzchroni­k der Hansestadt im Statistisc­hen Jahrbuch fehlt das Jahr 1992. Ebenso wie das Jahr 2004, in dem Mehmet Turgut in Rostock vom NSU erschossen wurde. Unbekannte hatten zwei der aufgestell­ten Marmorstel­en in der Nacht zu Donnerstag mit Farbe beschmiert.

In der Kurzchroni­k der Hansestadt fehlt das Jahr 1992. Ebenso wie das Jahr 2004, in dem Mehmet Turgut vom NSU erschossen wurde.

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