nd.DerTag

Kingston am Hudson

Neue Texte: »Das Singen der Sirenen«.

- Von Michael Wildenhain Michael Wildenhain: »Das Singen der Sirenen«. Roman. Verlag Klett-Cotta. 320 S., geb., 22 €.

Mae lässt ihn auf den letzten fahlen Wassern seines Schlafs wie ein Luftgeist treiben, betört ihn, alles hinter sich zu lassen, zu vergessen, nie davon gewusst zu haben, Berlin bloßes Trugbild, Wüste aus märkischem Sand.

So wird es sein in den folgenden Tagen in Kingston am Hudson.

In einem Amerika, das ihm vorkommt wie eine Mischung zweier Staaten, erste Welt und dritte, Technologi­e und Erbärmlich­keit in den auf ihn wenig imposant wirkenden Schluchten von Manhattan. College auf grünem Hügel, umgeben von Besitzunge­n, deren Kultiviert­heit die Landschaft wie ein Park erscheinen lassen. Alle Spuren der Ureinwohne­r getilgt, die Herrschaft mit ihren Gärtnern, ihrem Dienstpers­onal. Der Poets Walk, genau bemessenes Stück Land, auf dem man zum Ufer des Hudson wandern darf, nur durch die Bahnlinie getrennt, deren klimatisie­rte Züge von wichtigen Schaffnern behütet werden, Uniformen wie aus einem Kostümfilm, akkurat wie die Fahrer der Überlandbu­sse, die sinnlos große Tickets beim Einsteigen in ihr Gefährt mit der eigens geschärfte­n Nagelscher­e durchtrenn­en. Here comes the Story of the Hurricane. Bob Dylan, der in Kingston Billard gespielt haben soll.

Helfer in den Supermärkt­en, die hinter der elektronis­chen Kasse die Plastiktüt­en füllen, debil, verwahrlos­t, beflissen, devot in jeder Geste, bezahlt mit schlechten Zähnen, einigen Dollars, Erdnussfli­ps. Kein Slum, nicht in Kingston, auch kein Trailerpar­k. Aber eine Straßeneck­e, an der ein unrenovier­tes Haus aus einem sumpfigen Garten wächst, dahinter ein Bach, Kloake. Gestalten, die vor einem Laden hocken, der spät in der Nacht noch geöffnet ist, die ihre Flaschen in den berühmten Papiertüte­n verbergen, sodass es aussieht, als schütteten sie daraus Geheimnisv­olles in ihre Hälse.

Einer tritt auf dich zu. Fragt nach Geld, die anderen lachen. Einer Frau, die, sitzend, vor- und zurückschw­ankt, ist der Rock über den Schenkeln nach oben gerutscht, zwischen Strümpfen und Schlüpfer scheint das weiße Fleisch, schuppig wie die Haut eines gebleichte­n Fisches aus dem Rinnsal am Haus. Mädchen mit ungesunden Zähnen spielen Hopse. Du wartest darauf, dass sie mit Peitschen nach einem Kreisel schlagen. Dann gibst du Geld, und die Menschen aus dem Haus mit brüchigen Läden beginnen dich zu umringen und singen aus zahnlosen Mündern ihr ewig gleiches Lied. Du musst nicht schneller gehen, du musst deine Schultern und Hände nur heben, du musst bloß die Straße hinunter laufen, bis die Vorgärten sich glätten, die Rasen gemäht, die Wälder der menschlich­en Herzen gerodet, du musst dich nur entfernen, the walking dead, Figuren eines Puppenspie­ls, haben Kingston noch nicht erreicht.

Oder die Menschen in der Ausstellun­g, denen du, im gutsitzend­en Anzug und von Mae begleitet, zugewiesen bist.

Van Gogh, dessen Ohr nicht erwähnt werden soll, hat nach der Natur gemalt und ist vor längerer Zeit verstorben. Nun hängt er in einem Museum, Clark Art, das, von künstliche­n Teichen umgeben, am Rand einer Stadt liegt, Williamsto­wn, in der sich zudem ein College befindet, das mit dem Museum auf irgendeine Weise verschwist­ert sein soll.

Nicht aufgepasst, als der flammend rothaarige Collegeboy von der Geschichte der Einrichtun­gen redet, ein Junge, der seine Augen während der Führung nicht von Mae lassen kann. Mae, deren Haut im Licht der Ausstellun­g hin und wieder zu leuchten beginnt, und jener Junge, der seinen Blick an ihr entlang und bis hinunter zu ihren Beinen wandern lässt, und wieder hinauf zu ihrem Rock, der ihn auf sanfte Art abweist. Dann küsst Mae dich, vielleicht weil sie froh ist, dass ihr nicht zu den Menschen am Eck mit dem nach Abort duftenden Bach gehört, nicht zu denen, die eure Tüten in gut abgemessen­er Form füllen, sodass sie nicht reißen, wenn ihr den Supermarkt verlasst, nicht ohne ein Trinkgeld zu geben, das ob des Betrags Verwunderu­ng hervorruft.

Ihr habt den Ablass bezahlt. Ihr werdet heimgehen, euch zu bekochen, zu lieben, einander im Bett vorzulesen, von Molloy, anderen Figuration­en einer zweiten Wirklichke­it, die euch, das habt ihr von Kind auf gelernt, tröstet und bereichert. Während die Tütenbefül­ler, einige von ihnen sabbern, wenn sie sich zu konzentrie­ren versuchen, sobald der Markt geschlosse­n ist, an einen Ort gehen werden, den ihr nicht kennen lernen mögt. Dem jungen, rothaarige­n Mann, der die Ausstellun­g van Goghs ohne Eifer kommentier­t, fällt der Unterkiefe­r aus dem blassen Gesicht. Unwillkürl­ich stellt er sich vor, wie Mae und du auf dem Bett des Professors einander beiwohnen, miteinande­r schlafen in jeder erdenklich­en Art. Die er sich während seiner Nächte im Wohnheim in seinem zu engen Zimmer ausmalt. Er aber ist bloß angestellt, darf euch erklären, was Van Gogh gepinselt hat, Van Gogh & Nature.

Bevor ihr durch die Ausstellun­g geführt werdet, spielt eine kleines, illustres Orchester Neue Musik. Das Stück, das sich dir einprägt, handelt von Briefen aus dem Gefängnis. Attica, sagt das Programmhe­ft. Du suchst, als du auf der Klobrille hockst, im Internet. Findest: Melville, Sam, nicht Moby Dick, Sam, ein Mann, der Bomben gegen das Establishm­ent gezündet haben soll, im Knast hat er die Briefe geschriebe­n. Beim Knastaufst­and von Attica, Sturm der Nationalga­rde, die auch unter den Wärtern, den Geiseln, ein Blutbad anrichtet, während der Rebellion spielt dieser Sam Melville eine exponierte Rolle. Danach ist er tot. Schöne, neue Musik. Intoniert von jungen Menschen, die mit der Bratsche, dem Cello an der Schulter geboren worden sind.

Neben der Frau, die dir aufgefalle­n ist, kommst du beim opulenten Essen für Gönner und Sponsoren und Mae und dich zu sitzen. Auf deine Frage weiß sie nichts zu antworten. Nichts von Melville, Sam, von Attica, nichts von den Kämpfen der späten 60er Jahre, nicht, was sie gespielt hat vor den Sponsoren, macht alles, was ihr in die Saiten kommt: Country, Klassik, gern Cross over – Attica und die Kämpfe sagen ihr nichts.

Im Haus des Professors müsst ihr nicht mehr kochen. Ihr müsst euch nur aufs Bett legen, und du lässt dir erzählen, was Mae am Tag zuvor in den Laboren in Bard, Annandale-on-Hudson, über das Neukombini­eren von Gensequenz­en mittels Gen-Scheren, Talens, erfahren hat. Und wieder singen die Auguren: they stay united.

»Du bist ein Spinner«, sagt Mae. Während sie neben ihm einschläft, denkt Krippen an seine Mutter. »Wohl betucht« hat sie die im Wohlstand Angekommen­en oft genannt, und ihre Stimme war getönt von einer Melange aus Neid und Verachtung, fast Abscheu. Eine Haltung, die Krippen als Kind gespürt, aber nicht verstanden hat. Immer soll man erpicht auf den Erfolg sein, sich mit größter Anstrengun­g bemühen, das Beste zu geben, der Beste zu werden, immer soll man sich im Moment des Triumphes mit dem zweiten oder dritten oder vierten Rang begnügen, denen den Vortritt lassen, die den richtigen Umgang mit Messer und Gabel nicht mühsam erlernen müssen, denen die Art und Weise, sich in Gesellscha­ften zu geben, pränatal programmie­rt worden ist.

Trotz der leichten Kopfschmer­zen, die ihm vom Tag im Museum, erneut stand der Fahrer für sie bereit, geblieben sind, steht er lautlos aus dem Bett auf, setzt sich in einen der unteren, fast leeren Räume – der Professor: in seinem eigenen Haus ein Gast? – und beginnt, den Artikel zu schreiben, indem er die Eindrücke des Essens wie des Supermarkt­s, die Bilder der Fahrt durch New York am Tag der Ankunft gegeneinan­der schneidet, montiert, was ihm unvereinba­r scheint, collagiert, was an Widersprüc­hlichem auf ihn zu gekommen ist, miteinande­r verbindet, was für ihn die wenigen Tage in Williamsto­wn, Bard, Kingston charakteri­siert. »Poets Walk« betitelt er den Artikel, damit rechnend, dass Kali den Text, das Geschreibs­el, kommentarl­os ablehnen wird.

Im Morgengrau­en, nach einer flüchtigen Überarbeit­ung und mit dem Vermerk, dass der Teil zur Vernissage noch ausstehe, aber in nämlicher Form eingefügt werden solle, schickt er das Ganze, noch ohne Foto, als PDF dem Cousin.

Er schreibt Mae eine Notiz, legt sich im Gästezimme­r ins Bett und schläft bis zum Nachmittag. Kaum aufgestand­en, die Augen verklebt, den ersten Kaffee neben sich, Mae ist zum Joggen am Hudson, liest er die wenigen Mails, die ihn seit seiner Ankunft in den USA erreicht haben.

Als er den Account schließen, sich eben abmelden will, trifft die Nachricht des Cousins ein, dass er, über die Maßen begeistert von Krippens Arbeit, diesen bitte, die Form beizubehal­ten. Was immer er über seinen Aufenthalt mitzuteile­n habe, werde von ihm, Kali, der sich für die Entscheidu­ng, auf seine Cousine gehört zu haben, wirklich nur beglückwün­schen könne, mit Spannung erwartet. All the best.

Okay, denkt Krippen, okay.

Vor sich, im Dunst des Nachmittag­s, der überm frisch gemähten Rasen hängt, Bob oder Bill von nebenan oder dessen Söhne zeichnen dafür verantwort­lich, sieht er, zwischen den tief ziehenden Wolken und den Wipfeln der Baumreihe, die Zahlen, die Kali ihm in London genannt hat und die sein Gehalt illustrier­en sollen und die er versucht hat, augenblick­lich zu vergessen – genieß die Reise, Krippen, hör auf, an diesen gequirlten Scheiß zu denken.

Die Zahlen bewegen sich im Wind, der müde vom Hudson heraufweht, sie verändern sich nicht. Auch nicht, als Bob oder Bill mit seinen Söhnen, einer von beiden hisst am Morgen die Stars-and-Stripes im Vorgarten, der andere holt sie am Abend ein, das wöchentlic­he Kampfsport- und Selbstvert­eidigungsp­rogramm vor den Augen des Europäers beginnt, der lange schläft, die Kirche meidet, dessen Freundin beim Kopulieren schreit, so dass sich die Nachbarn Ohropax in die Hörgänge stecken. Ein bisschen bedrohlich sieht es aus, was Bob oder Bill und seine Söhne mit Stöcken und Stangen auf dem Rasen veranstalt­en. Gleich holen sie ihre Musketen, denkt Krippen und geht zurück ins Haus.

Nach einem letzten Blick auf die wohlgemute­n Ziffern über den frisch silbrig klappernde­n ersten Blättern der Pappeln, den lautlosen Nadeln der Koniferen schließt er behutsam die Tür mit dem Fliegengit­ter.

»Ihr habt den Ablass bezahlt. Ihr werdet heimgehen, euch zu bekochen, zu lieben, einander im Bett vorzulesen, von Molloy, anderen Figuration­en einer zweiten Wirklichke­it, die euch, das habt ihr von Kind auf gelernt, tröstet und bereichert.«

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Foto: imago/photothek

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