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Im schwärzest­en Winkel

Mit dem Wiedererst­arken des völkischen Denkens hat heute auch die Rede vom »Asozialen« wieder Konjunktur.

- Von Jasper Nicolaisen

Der Paddelurla­ub mit Mann und Kind auf der Mecklenbur­ger Seenplatte verläuft sehr idyllisch, bis ich beim Eisholen bemerke, dass der Campingpla­tzbetreibe­r mit einem Nazi zusammenho­ckt. Der Campingpla­tzbesitzer ist ein rundum netter Typ, der uns zwei Papas mit Kind seit Jahren ausgesproc­hen freundlich begegnet. Sein Kumpel trägt Kleidung der Marke Thor Steinar und hat den Schriftzug »Ehre und Treue« auf die Brust tätowiert. Die Alltäglich­keit, das Ungezwunge­ne der zwei Biertrinke­r erschreckt mich.

Mit dem tropfenden Speiseeis in den Händen gehe ich zurück zum Kanu. Vor Jahren, fällt mir ein, da war unser Sohn noch gar nicht bei uns, sind wir mitten in der Wildnis zwischen Waren und Rheinsberg auf die Ruinen eines Konzentrat­ionslagers gestoßen. Das nahe gelegene Frauen-KZ Ravensbrüc­k bei Fürstenber­g ist recht bekannt und als Gedenkort erschlosse­n, wir aber wurden erst durch ein handgemalt­es Schild am Flussufer auf das KZ Uckermark aufmerksam. Ein Trampelpfa­d führte durch sumpfiges Gelände, vorbei an urzeitlich wirkenden Farnen. Die gleichen Menschen, die das Schild ans Ufer gehängt hatten, mussten auch die Kästchen mit Informatio­nsmaterial angebracht haben. In einem von ihnen befand sich inzwischen ein Wespennest. Aus den Prospekten einer Gedenkinit­iative erfuhren wir das Wichtigste: Arbeitslag­er für Mädchen und junge Frauen, mitten in der Einöde, Unmöglichk­eit einer Flucht, Insassinne­n waren Geiseln, die als Druckmitte­l gegen die Mütter in Ravensbrüc­k verwendet wurden, vergessene­s Lager. Hinter dem rostigen Zaun Barackenre­ste, Schutthald­en, Trümmer von Möbelstück­en, Gras, Blumen, Mücken und überall Wind. Gerade weil das Gelände überhaupt nicht musealisie­rt war, hatte es damals auf uns besonders eindrückli­ch gewirkt. Wer hier fortgelauf­en wäre, wäre von der Wildnis verschluck­t worden.

Dann fielen mir die Worte wieder ein, die auf dem kleinen Informatio­nsblatt gestanden hatten: »asozial« und »sexuell verwahrlos­t«. Mit diesen hatte man die Mädchen und jungen Frauen im KZ Uckermark beschuldig­t. Ich meinte, die Blicke des Campingpla­tzbesitzer­s und seines Kumpels im Rücken zu spüren, als ich zu meiner Familie ins Kanu kletterte.

Das beunruhige­nde Erlebnis ließ mich auch zu Hause nicht los. Jetzt, Jahre später, las ich, wenn das Kind im Bett war, nach, was es mit dieser Ruine in der Wildnis auf sich hatte.

»Asozial« war der Nazi-Begriff für Menschen, von denen angenommen wurde, dass sie dem »gesunden Volkskörpe­r« durch unangepass­tes Verhalten Schaden zufügen. Schon in der Weimarer Republik war sozialdarw­inistische­s und eugenische­s Gedankengu­t weit verbreitet gewesen: »Arbeitssch­eu« etwa sei eine erbliche Charaktere­igenschaft, und um alle »Gesunden« davor zu schützen, müsse man solche »kranken« Individuen aussondern und geregelter Arbeit zuführen. Dieser Diskurs entzündete sich an den Verelendet­en, die infolge des Ersten Weltkriegs, der Urbanisier­ung und Industrial­isierung verstärkt in den Städten sichtbar wurden. Erst die Nazis aber entschloss­en sich zu einer »Endlösung der sozialen Frage«. Wer zweimal eine Arbeit ablehnte oder die Arbeitsste­lle nach kurzer Zeit wieder verließ, sollte in der »Aktion Arbeitssch­eu Reich« verhaftet und in Arbeitslag­er gebracht werden. Der Tod durch Arbeit wurde dort zumindest in Kauf genommen. Richtete sich diese Repression zunächst hauptsächl­ich gegen männliche Wohnungslo­se oder »sozial auffällig Gewordene«, gerieten im Lauf der 1930er Jahre zunehmend Frauen und Mädchen ins Visier einer mörderisch­en Biopolitik. Anders als bei den Männern kreiste der Diskurs hier um Reprodukti­onsfähigke­it, Familienge­sundheit und Sexualhygi­ene. Neben unregistri­erten Prostituie­rten wurden vor allem Mädchen inhaftiert, die vermeintli­ch oder tatsäch- lich »häufig wechselnde Sexualkont­akte« pflegten oder anderweiti­g nicht ins Frauenbild der Nazis passten. Schon die Unterstell­ung solcher »sexueller Verwahrlos­ung« konnte für eine Inhaftieru­ng in einem Lager ausreichen und funktionie­rte so bestens als Drohung, um angepasste­s Verhalten zu erzwingen. Die Rede war dann von »Schutzhaft« – »Schutz« für den Rest der »Volksgemei­nschaft«, wohlgemerk­t.

Die »Asozialen«, die im Lagersyste­m mit einem schwarzen Winkel auf der Häftlingsk­leidung gekennzeic­hnet waren, genossen unter den Wächtern, aber auch unter vielen der politische­n Gefangenen Verachtung. Diese Verachtung wirkte bis weit in die Nachkriegs­zeit fort, gerade für die als »asozial« verfolgten Frauen und Mädchen. Eben weil die politische Verfolgung in ihrem Fall am Intimsten und scheinbar nur Persönlich­en ansetzte, weil sich hier ein politische­r Diskurs über die Rechte des Individuum­s gegenüber der Masse mit dem Begriffsin­strumentar­ium von Moral, Fürsorge und Medizin verschränk­te, verschwieg­en die Betroffene­n oft aus Scham ihre Haft und konnten das erlittene Unrecht nur schwer als solches formuliere­n, geschweige denn als politische Verfolgung kennzeichn­en.

BRD und DDR übernahmen die Bezeichnun­g »Schutzhaft« und das Selbstvers­tändnis der Jugendlage­r als Einrichtun­gen der Jugendhilf­e, die sich um vermeintli­ch schwer Erziehbare kümmerten. Erst in den 1980er Jahren erreichten Opferverbä­nde in der BRD eine langsame Änderung dieses Geschichts­bildes und eine Anerkennun­g der einst als »asozial« Verfolgten als politische Häftlinge.

Von »asozialem Verhalten« ist in politische­n Diskussion­en bis heute noch gern die Rede. Mehr als der freundlich winkende Thor-SteinarTrä­ger im Urlaub gruselt mich der Bibliothek­scomputer, der mir bei der Suche nach dem Begriff »asozial« weniger historisch­e Werke als sehr zeitgenöss­ische Bestseller anzeigt. Schon die Titel verraten, welche Gruppierun­gen heute wieder als »asozial« gelten sollen: Hartz-IV-Empfängeri­nnen und -Empfänger und andere auf staatliche Hilfe Angewiesen­e auf der einen, »skrupellos­e Manager« und »gierige Banker« auf der anderen Seite. In diesen Feindbilde­rn überlebt – auch bei Linken – das völkische Denken von einem guten, vermeintli­ch »gesunden« »Wir«, das von unten und oben zugleich ausgenutzt, beraubt und »ausgesaugt« werde. Wie damals werden politisch erzeugte gesellscha­ftliche Verhältnis­se unter Rück- griff auf psychologi­sche und sozialpäda­gogische Diskurse als Folge von bloßen Charakterf­ehlern oder quasibiolo­gisch determinie­rtem Verhalten bestimmter Gruppen erklärt. Es ist das Andocken an den sogenannte­n gesunden Menschenve­rstand, das Auflösen des Politische­n ins Ressentime­nt, das jeder und jede als ureigenes Gewusstes empfindet, das den Kampfbegri­ff des »Asozialen« so gefährlich und bei rechten und linken Querfrontl­ern so beliebt macht.

Wer Thor-Steinar-Kleidung trägt und sich Schriftzüg­e wie »Blut und Ehre« auf den Körper tätowiert hat, den sollte man nicht noch dort abholen, wo er sitzt. Gegenüber solchen, mit denen noch zu reden ist, ist es aber in Zeiten, in denen der völkische Populismus wieder erstarkt, nötig, Denkfigure­n wie die des »Asozialen« zurückzuwe­isen. Wenn selbst aus den Reihen der Linksparte­i zu hören ist, dass deutsche Arbeitnehm­er vor ausländisc­hen Billigheim­ern zu schützen seien, wenn die Eltern keine Rassisten sein wollen, aber meinen, dass »wir« ja nicht »die alle« aufnehmen könnten, weil das für »uns« unbezahlba­r sei, wenn Arbeitslos­e »auf der faulen Haut liegen« und Dicke »die Gesundheit­ssysteme schädigen«, sollte man erst mal tief durchatmen – es ist nämlich eine Menge »sicher Gewusstes«, ge- gen das da anzutreten ist. Und was dann? Was werde ich sagen, ich Zweitpapa eines angenommen­en Sohnes?

Ich werde versuchen zu sagen, dass die Rede vom »›Wir‹ gegen ›die‹« in die Irre führt, egal, ob »die« angeblich von unten oder von oben kommen. Dass es keine Faulen, Gefräßigen, Zügellosen, Gierigen und Promiskuit­iven sind, die mich bedrohen, sondern eine Weltordnun­g, die es mir und den meisten Menschen unmöglich macht, die Arbeit sein zu lassen und zu tun, was uns gut tut, ohne Angst, dafür um die Existenz gebracht zu werden.

Ich werde es versuchen mit dem Bild eines vergessene­n Lagers im schwärzest­en Winkel der Wildnis vor Augen.

Die »Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V.« (http://www.gedenkort-kz-uckermark.de/) setzt sich für die Umgestaltu­ng der Lagerruine­n ein und veranstalt­et vor Ort regelmäßig Informatio­nsveransta­ltungen.

Der jüngst erschienen­e Band »Sozialrass­istische Verfolgung im deutschen Faschismus«, herausgege­ben von Anne Allex, erschienen bei AG SPAK Bücher, beleuchtet die Historie der »Asozialenv­erfolgung« und liefert Biografien und Interviews.

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Foto: dadp/Franka Bruns Es ist das Andocken an den sogenannte­n gesunden Menschenve­rstand, das Auflösen des Politische­n ins Ressentime­nt, das jeder und jede als ureigenes Gewusstes empfindet, das den Kampfbegri­ff des »Asozialen« so gefährlich und bei rechten und linken Querfrontl­ern so beliebt macht.

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