Großindustrie auf Kaperkurs
Wie Konzerne die europäische Forschungsförderung zur Profitmaximierung missbrauchen
Herr Pigeon, das EU-Programm »Horizon« soll die Industrieforschung in Europa fördern. Sie kritisieren, dass damit eher Großunternehmen unterstützt werden und sehen im Lobbyismus der Großindustrie in Brüssel eine Gefahr für die Demokratie und für die Freiheit der Wissenschaft in Europa. Was haben Sie gegen EU-Forschungssubventionen für Großunternehmen? Vergessen wir nicht, dass »Horizon 2020« ins Guinessbuch der Rekorde gehört; mit über 70 Milliarden Euro von 2014 bis 2020 ist es das größte Forschungsprogramm der Welt. Es ist außerdem der drittgrößte Etat der EU nach denen für Landwirtschaft und für strukturelle Entwicklung. Das Problem mit den EU-Mitteln für Konzerne ist, dass dies echtes Geld ist, während jene ungeprüfte Eigenleistungen geltend machen können. Daraus folgt, dass wir das, was die Firmen als eigene Aufwendungen angeben, einfach als bare Münze zu nehmen haben, ob es wahr ist oder nicht.
Nach eigenen Angaben der Industrie erhalten Konzerne nur 13 Prozent, also ein Sechstel, aus dem EUForschungsbudget, alle Industriebetriebe Europas zusammengenommen ein Viertel. Ist das zu viel? Wir reden hier von zweistelligen Milliardenbeträgen, also von sehr viel Geld. Während der Anteil von »Horizon 2020« am Gesamtbudget der EU gegenüber seinem Vorgängerprogramm fast gleich blieb, haben sich die Forschungsausgaben für Public-Private Partnerships (PPP), Projekte in Kooperationen mit Industriebetrieben, von neun auf über 20 Prozent mehr als verdoppelt. Das Geld soll den Firmen helfen, das Risiko teurer Forschung zu schultern, nicht sie zu bezahlen. Genau das tun sie aber. Ein Vertreter von EPSA, der pharmazeutischen Lobby in Brüssel, sagte es letztens unverblümt: »Es erspart den einzelnen Firmen Kosten für Forschungsarbeit, die sie sowieso hätten leisten müssen.« Darauf hat auch Soledad Cabezón Ruiz, die für die spanischen Sozialdemokraten im Europaparlament sitzt, in ihrem »Horizon«-Bericht hingewiesen. Sie kritisiert, dass die Firmen das Geld einfach einstecken, ohne selbst etwas draufzulegen. Und dieses Geld fehlt dann anderswo. Dafür sind die Forschungsgelder, für die die europäischen Steuerzahler ungefragt aufkommen, nicht bestimmt. Sie sollen neues Wissen generieren, um wichtige gesellschaftliche Fragen zu lösen – etwa zum Klimawandel.
Stellt die EU nicht sicher, dass auch dieses Geld wichtigen gesellschaftlichen Zielen zugute kommt?
Eben nicht. Zwar spiegelt diese Politik die Prioritäten der politischen Mehrheiten in der EU und den einzelnen Mitgliedsstaaten wider, aber solche Industriesubventionen schaffen neue große Probleme. Zum einen folgen auf höhere EU-Budgets allenthalben Kürzungen in den nationalen Forschungshaushalten. Zum andern sind Unternehmen naturgemäß profitorientiert, was nicht unbedingt zu schlechter Forschung führt, aber zur Kontrolle ihrer Ergebnisse. Sie kontrollieren, was die Wissenschaftler publizieren dürfen und was nicht, wenn es den Firmeninteressen zuwiderläuft, sie eignen sich die Patente aus den Erfindungen und damit die Profite an, und vor allem engen sie die Forscher auf gewinnorientierte Fragestellungen ein. Sie verseuchen gewissermaßen die Wissenschaftskultur. Was ist das Problem mit den Patenten?
Die neuen Erkenntnisse, die durch PPP im besten Fall gewonnen werden, werden zu geschütztem geistigen Eigentum – oder auch nicht. Die Schlüsselfrage ist: Wer profitiert davon? In der EU-geförderten Medizinforschung haben die Pharmaunternehmen sich den Löwenanteil der Patente gesichert. Wir von CEO vertreten die Forderung, dass öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse für jeden frei verfügbar gemacht werden müssen, etwa unter der Creative-Commons-Lizenz.
Auch Soledad Cabezón Ruiz fordert mehr Transparenz in der EUForschungsförderung. Wie muss diese Ihrer Meinung nach aussehen?
Ich verstehe darunter unter anderem den Nachweis der tatsächlichen Investitionen der Großindustrie. Noch grundlegender aber ist es, die Geburtsfehler des Systems zu beheben. Die EU hat länderübergreifend Industriezweige gefördert, damit sie sich in Verbänden organisieren. Damit hat die EU aber die überbordende Präsenz von Lobbyisten in Brüssel erst produziert. Deren Einfluss ist der erste, der strukturelle Interessenkonflikt der EU, weil die beratenden Firmen nachher an den Ausschreibungen für die Förderprogramme teilnehmen. Der zweite, individuelle Interessenkonflikt betrifft die hinzugezogenen Experten. Nehmen wir EFSA, die wichtige Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, die jedes einzelne Produkt, das in die Supermärkte kommen soll, genehmigen muss. Unseren aktuellen Untersuchungen zufolge hat fast jeder Zweite (46 Prozent), der für EFSA Gutachten schreibt, Interessenkonflikte. Das heißt, er oder sie wurde entweder direkt von einer EUgeförderten Firma bezahlt oder hat in den letzten fünf Jahren für sie gearbeitet.
Mit »Horizon 2020« in der zweiten Halbzeit wird das Folgeprogramm »FP9« vorbereitet, und im Europäischen Parlament fordern einige, das kommende Forschungsbudget auf 100 oder 120 Milliarden Euro zu erhöhen. Der europäische Hochschulverband EUA hat gar 200 Milliarden Euro gefordert. Ist das gut?
Nein, im Gegenteil. Die Ausrichtung der europäischen Forschungspolitik hat sich schon mit »Horizon 2020« immer mehr zugunsten der Großindustrie verschoben und die Fördersummen vom Zehn-Millionen-Bereich auf Milliardenbeträge aufgebläht. Das »FP9« wird eine gigantische Schlammschlacht um Subventionen, was die besprochenen Probleme beträchtlich vergrößern wird. Es deprimiert mich, dass angesichts der wichtigen Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel, der Kollaps der Biodiversität, zunehmende Antibiotikaresistenz, die die Menschheit im Ganzen bedrohen – ein EU-Programm, das sich dieser Probleme annehmen könnte, von den unverantwortlichen Interessen der Großindustrie gekapert wird. Dabei gibt es viel zu wenig demokratische Mitsprache der Zivilgesellschaft. Kleine NGOs wie die unsere können den enormen Forschungs- und Kontrollaufwand gar nicht bewältigen. Diese Politik führt schließlich zu einer immer stärkeren Privatisierung der Wissenschaft und Bildung, und das unterminiert zunehmend die Redefreiheit, die Forschungsfreiheit und die Freiheit zur Kritik.