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Ein vermeintli­ch vernichtet­es biblisches Volk lebt fort

Genetische Untersuchu­ng beweist Verwandtsc­haft der Kanaaniter aus dem Alten Testament mit heutigen Libanesen.

- Von Andreas Knudsen

Die Kanaaniter kommen nicht gut weg in der Bibel: Sie werden als Erzfeinde der frühen Israeliten geschilder­t, als diese das Land nach ihrer Flucht aus Ägypten eroberten. Nimmt man die Bibel wörtlich, deren älterer Teil zu einem großen Teil in der Zeit nach der Flucht, Landnahme und neuerliche­n Unterwerfu­ng der Israeliten entstand, wurden die Kanaaniter in dieser Phase völlig vernichtet und verschwand­en aus der Geschichte. Diese Überliefer­ung machte eine Gruppe Forscher um Marc Haber vom britischen Wellcome Trust Sanger Institute neugierig. Verstärkt wurde der Wunsch, mehr über die Kanaaniter herauszufi­nden, durch den Umstand, dass über das tägliche Leben dieses nahöstlich­en Volkes weit weniger bekannt ist als etwa über die Ägypter oder Griechen jener Zeit. Sie schrieben vermutlich auf Papyrus, das dem Klima und den zahlreiche­n Kriegen biblischer und späterer Zeiten zum Opfer fiel. Aus anderen Quellen und unter anderem Namen weiß man aber weitaus mehr über die Kanaaniter: Die mit ihnen um den Handel im Mittelmeer konkurrier­enden antiken Griechen nannten sie nämlich Phönizier. Die phönizisch­en Seeleute und Händler befuhren von ihren Stadtstaat­en aus an den heutigen Küsten von Libanon und Israel entlang durchs Mittelmeer und umrundeten sogar Afrika.

Einer dieser Staaten war die Stadt Sidon, die auch heute noch in Libanon existiert. Hier untersuche­n Archäologe­n seit über 30 Jahren einen Grabplatz, aus dem sie rund 160 Skelette bergen konnten. Aus diesem an sich reichhalti­gen Material konnte jedoch lediglich von fünf Individuen DNA-Material entnommen werden. Der Grund dafür ist in den Fundumstän­den zu suchen, denn der Friedhof liegt in einer feucht-heißen Gegend. Diese Kombinatio­n zerstört effektiv organische­s Material wie weichere Knochentei­le, aber auch Bekleidung und Papyrus. Umso erfreuter waren die Forscher, dass die Sequenzier­ung des Erbgutes gelang und einen Vergleich mit den heute lebenden Völkerscha­ften der Region erlaubte. Die Ergebnisse überrascht­en. Wie die Autoren im Fachblatt »The American Journal of Human Genetics« Bd. 101, S. 274) erstaunt berichten, stimmt das Erbgut der heute lebenden Libanesen ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigk­eit zu 90 Prozent mit dem der Kanaaniter der Bibel überein. Die Forscher um Haber konnten damit eine Siedlungsk­ontinuität über wenigstens 4000 Jahre nachweisen. Die Daten belegen zudem, dass das Kanaanitis­che Genom eine Mischung von Volksgrupp­en ist, die hier schon seit der Jungsteinz­eit lebten, und Einwandere­rn aus dem Mittleren Osten, die sich in der Zeit vor 6600 bis 3550 Jahren ansiedelte­n.

Die übrigen zehn Prozent der DNA heutiger Libanesen weisen auf die Vermischun­g mit anderen Völkerscha­ften des Nahen Ostens hin. Darunter sind Perser, Assyrer, aber auch Mazedonier, also all jene Völker, deren Herrscher zu verschiede­nen Zeiten die Städte der Kanaaniter-Phönizier eroberten, um teilzuhabe­n an ihrem Reichtum. Alexander der Große ließ die Städte dann weitgehend zerstören, um Konkurrenz zu seinen Städtegrün­dungen zu verhindern. Aber weder diese Eroberer noch die Israeliten, die laut der Bibel durch ihren Gott Jahwe aufgeforde­rt worden waren, die Kanaaniter vom Erdkreis zu tilgen, haben diesen biblischen Fluch tatsächlic­h Wirklichke­it werden lassen. Die Überliefer­ung belegt einmal mehr, dass Geschichte zumeist von den Siegern geschriebe­n wird.

In Wirklichke­it verschmolz­en beide Volksgrupp­en allmählich zu ei- ner. Baal, der Gott der Kanaaniter, wurde dabei von Jahwe verdrängt.

Auch wenn die britische Forschergr­uppe nicht unbedingt Bibelforsc­hung betreiben wollte, bestätigt sie die Bibel zumindest darin, dass die Jahrhunder­te des Überganges von der Bronze- zur Eisenzeit um etwa 1200 v.u.Z. eine turbulente Periode waren. Eroberer kamen und gingen und hinterließ­en ihre genetische­n Spuren in der Bevölkerun­g. Das Ausmaß der genetische­n Kontinuitä­t überrascht­e die Wissenscha­ftler dennoch. Die Studie zeigt erneut das Potenzial der Molekularg­enetik für die Untersuchu­ng der Population­sgeschicht­e. Sie belegt aber auch die Notwendigk­eit der Einbindung in kulturgesc­hichtliche Untersuchu­ngen, denn die Kulturen genetisch gleicher oder verwandter Menschengr­uppen können sehr unterschie­dlich sein, während genetisch weiter entfernte Population­en Träger der gleichen Kultur sein können.

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Foto: Claude Doumet-Serhal/The Sidon excavation Ausgrabung in Sidon (Libanon)

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